Der Goldene Kompass
Fisch, und einmal schloß er sich sogar, zu deren freudiger Überraschung, einer Gruppe Delphinen an. Lyra stand frierend auf dem Vorderdeck und lachte vergnügt, als ihr geliebter Pantalaimon zusammen mit einem halben Dutzend anderer grauer Leiber in eleganten, kraftvollen Sprüngen aus dem Wasser schnellte. Ihre Freude war allerdings nicht ungetrübt, denn gleichzeitig quälte sie eine bange Frage. Angenommen, die Verlockungen des Lebens als Delphin wären stärker als seine Liebe zu ihr?
Ihr Freund, der Matrose, war in ihrer Nähe damit beschäftigt, das Segeltuch über der vorderen Luke zurechtzurücken. Er unterbrach seine Arbeit, um zuzuschauen, wie der Dæmon des Weinen Mädchens mit den Delphinen durch die Wellen glitt und aus dem Wasser sprang. Sein eigener Dæmon, eine Möwe, saß auf der Ankerwinde und hatte den Kopf unter den Flügel gesteckt. Jerry wußte, was Lyra empfand.
»Als ich das erste Mal zur See fuhr, hatte meine Belisaria noch nicht ihre endgültige Gestalt angenommen — so jung war ich damals —, und sie verwandelte sich für ihr Leben gern in einen Tümmler. Ich hatte Angst, daß sie irgendwann mal endgültig einer bleiben würde. Auf meinem ersten Schiff war nämlich ein alter Seemann, der überhaupt nie an Land gehen konnte, weil sein Dæmon für immer ein Delphin geworden war und das Wasser nicht verlassen konnte. Er war ein wunderbarer Seemann, der beste Navigator, den es jemals gab; er hätte in der Fischerei ein Vermögen machen können, aber er wollte nicht. Er war nie richtig glücklich, bis er starb und im Meer begraben werden konnte.«
»Warum nehmen Dæmonen irgendwann eine feste Gestalt an?« fragte Lyra. »Ich will, daß Pantalaimon sich immer verwandelt, und er will das auch.«
»Das war immer so und wird auch immer so sein. Es gehört zum Erwachsenwerden dazu. Eines Tages wirst du es leid sein, daß er sich verwandelt, und dann willst du, daß er eine feste Gestalt annimmt.«
»Das will ich nie!«
»Doch, glaube mir. Du wirst erwachsen sein wollen wie alle anderen Mädchen. Außerdem hat das auch einen Vorteil.«
»Was für einen denn?«
»Man weiß, was für ein Mensch man ist. Schau dir die alte Belisaria an. Sie ist eine Möwe, und das bedeutet, auch ich bin eine Art Möwe. Ich bin nicht schön oder sonstwie außergewöhnlich, aber ich bin ein zäher alter Kerl, der überall Freunde und etwas zum Beißen findet. So etwas ist gut zu wissen. Wenn dein Dæmon seine endgültige Gestalt annimmt, weißt du, zu welcher Sorte Mensch du gehörst.«
»Aber wenn er eine Gestalt annimmt, die ich nicht mag?«
»Tja, dann bist du natürlich unzufrieden. Was glaubst du, wie viele Leute sich einen Löwen als Dæmon wünschen und schließlich einen Pudel bekommen. Sie ärgern sich, bis sie lernen, sich mit dem zufriedenzugeben, was sie sind. Da ist aller Ärger umsonst.«
Trotzdem konnte Lyra sich nicht vorstellen, jemals erwachsen zu werden.
Eines Morgens hing ein fremdartiger Geruch in der Luft, und das Schiff machte seltsame Bewegungen. Statt wie bisher auf und ab über die Wellenberge zu stampfen, schaukelte es lebhaft von einer Seite auf die andere. Lyra war eine Minute nach dem Aufwachen an Deck und starrte begierig dem Land entgegen: Was für ein ungewohnter Anblick nach all dem Wasser! Denn obwohl sie nur wenige Tage auf See verbracht hatten, hatte Lyra das Gefühl, sie wären monatelang unterwegs gewesen. Unmittelbar vor dem Schiff ragte ein Berg mit grünen Hängen und schneebedecktem Gipfel auf. An seinem Fuß lag eine kleine Stadt mit einem Hafen; zu sehen waren Holzhäuser mit spitzen Dächern, der Turm eines Bethauses, Hafenkräne und Schwärme kreisender, schreiender Möwen. Es stank nach Fisch, vermischt mit Gerüchen vom Festland wie Kiefernharz, Erde, einem Geruch nach Tieren und Moschus und noch etwas Kaltem, Leerem und Wildem, vielleicht Schnee. Es war der Geruch des Nordens.
Seehunde tollten ums Schiff herum und streckten ihre Clownsgesichter aus dem Wasser, bevor sie lautlos wieder untertauchten. Der Wind, der die Gischt von den weißen Schaumkronen der Wellen wehte, war eisig und drang durch jede Ritze in Lyras Wolfspelz. Bald schmerzten ihre Hände, und ihr Gesicht war taub vor Kälte. Pantalaimon wärmte ihr zwar als Hermelin den Hals, aber es war trotzdem zu kalt, um lange untätig draußen herumzustehen, selbst wenn man dabei Seehunde beobachtete, und so ging Lyra unter Deck, aß im Salon ihren Haferbrei und sah zum Bullauge hinaus.
Im
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