Der Goldene Kompass
Hafen war das Wasser ruhig, und als sie an dem wuchtigen Wellenbrecher vorbeifuhren, hatte Lyra plötzlich Gleichgewichtsstörungen, weil jede Bewegung fehlte. Gespannt beobachteten sie und Pantalaimon, wie sich das schwerfällige Schiff zentimeterweise der Kaimauer näherte. In der folgenden Stunde waren alle mit Vorbereitungen für die Landung beschäftigt. Das Maschinengeräusch ging in ein gedämpftes Brummen über, und Befehle und Fragen wurden gebrüllt, Taue durch die Luft geschleudert, Gangways heruntergelassen und Luken geöffnet.
»Komm, Lyra!« sagte Farder Coram schließlich. »Hast du alles gepackt?«
Lyras wenige Sachen waren gepackt, seit sie aufgewacht war und Land gesehen hatte. Sie brauchte nichts weiter zu tun, als die Einkaufstasche aus der Kabine zu holen, und schon war sie fertig.
An Land machten sie und Farder Coram sich als erstes auf die Suche nach dem Haus des Hexenkonsuls. Sie brauchten nicht lange zu suchen; die Häuser der kleinen Stadt drängten sich um den Hafen, und die einzigen größeren Gebäude waren das Bethaus und das Haus des Gouverneurs. Der Hexenkonsul wohnte in einem grün gestrichenen Holzhaus mit Blick aufs Meer. Als sie an der Tür läuteten, tönte die Glocke schrill durch die ruhige Straße.
Ein Diener führte sie in einen kleinen Salon und brachte ihnen Kaffee. Bald darauftrat der Konsul ein und begrüßte sie. Er war ein beleibter Mann mit rosiger Gesichtsfarbe; er trug einen schlichten, dunklen Anzug und hieß Martin Lanselius. Sein Dæmon war eine kleine Schlange, genauso tiefgrün wie die Augen des Konsuls, die das einzig Hexenähnliche an ihm waren; obwohl Lyra gar nicht genau wußte, wie sie sich eigentlich eine Hexe vorgestellt hatte.
»Was kann ich für Sie tun, Farder Coram?« fragte er.
»Zweierlei, Doktor Lanselius. Erstens liegt mir viel daran, mich mit einer Hexe in Verbindung zu setzen, der ich vor Jahren in den Fens von East Anglia begegnet bin. Sie heißt Serafina Pekkala.«
Dr. Lanselius notierte sich etwas mit einem silbernen Stift.
»Wie lange liegt diese Begegnung zurück?« fragte er.
»An die vierzig Jahre. Aber ich glaube, daß sie sich daran erinnert.«
»Und Ihr zweites Anliegen?«
»Ich vertrete mehrere gyptische Familien, die Kinder verloren haben. Wir haben Grund anzunehmen, daß es eine Organisation gibt, die diese Kinder — unsere und andere — entführt und in den Norden bringt. Den Grund kennen wir nicht. Ich wüßte gern, ob Sie oder Ihr Volk von solchen Vorgängen gehört haben.«
Dr. Lanselius nippte am Kaffee, seine Miene war höflich. »Es ist nicht ausgeschlossen, daß uns derartige Unternehmungen zu Ohren gekommen sind«, sagte er. »Verstehen Sie aber bitte, daß die Beziehungen zwischen meinem Volk und den Nordländern überaus herzlich sind und ich mir nicht erlauben darf, sie aufs Spiel zu setzen.«
Farder Coram nickte, als könne er das sehr gut verstehen.
»Natürlich«, sagte er. »Und ich brauchte Sie auch gar nicht darum zu bitten, wenn ich die Informationen auf einem anderen Weg bekommen könnte. Aus diesem Grund habe ich zuerst nach der Hexe gefragt.«
Jetzt war es an Dr. Lanselius, verständnisvoll zu nicken. Lyra sah diesem Hin und Her erstaunt und bewundernd zu. Unter der Oberfläche der Worte spielten sich die verschiedensten Dinge ab, und sie merkte, daß der Hexenkonsul einen Entschluß faßte.
»Also gut«, sagte er. »Sie haben natürlich ganz recht, und Sie wissen ja auch, Farder Coram, daß Ihr Name uns keineswegs unbekannt ist. Serafina Pekkala ist die Königin eines Hexenclans am Enara-See. Was Ihre andere Frage betrifft, so versteht sich von selbst, daß Sie die gewünschte Auskunft nicht durch mich erhalten.«
»Selbstverständlich.«
»Gut. In dieser Stadt befindet sich die Niederlassung einer Organisation mit dem Namen Gesellschaft zur Erforschung des Nordens, die angeblich nach Bodenschätzen sucht, in Wirklichkeit aber von der sogenannten General-Oblations-Behörde aus London gesteuert wird. Zufälligerweise weiß ich, daß diese Organisation Kinder importiert. In der Stadt ist das im großen und ganzen unbekannt, und offiziell weiß auch die norrowegische Regierung nichts davon. Die Kinder bleiben nicht lange hier, sondern werden weiter ins Landesinnere gebracht.«
»Wissen Sie wohin, Doktor Lanselius?«
»Nein. Ich würde es Ihnen sagen, wenn ich es wüßte.« »Wissen Sie denn, was dort mit ihnen geschieht?«
Zum ersten Mal sah Doktor Lanselius kurz zu Lyra hinüber.
Sie hielt
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