Der Goldene Kompass
seinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. Der kleine grüne Schlangendæmon hob den Kopf vom Kragen des Konsuls und flüsterte ihm züngelnd etwas ins Ohr.
Daraufhin sagte der Konsul: »Ich habe gehört, wie in diesem Zusammenhang der Begriff Maystadt-Verfahren fiel. Offensichtlich verwenden sie diesen Begriff als Decknamen für ihr eigentliches Geschäft. Außerdem ist die Rede von Interzision, ich kann aber nicht sagen, was damit gemeint ist.«
»Sind gegenwärtig Kinder in der Stadt?« fragte Farder Coram.
»Nein, ich glaube nicht«, antwortete Dr. Lanselius. »Vor einer Woche kam eine etwa zwölfköpfige Gruppe hier an, sie hat die Stadt aber vorgestern wieder verlassen.«
»Aha, erst vorgestern? Dann besteht noch Hoffnung. Wie sind sie abgereist, Doktor Lanselius?«
»Mit Schlitten.«
»Und Sie haben keine Ahnung, wohin sie gefahren sein könnten?«
»Nein. Solche Dinge interessieren uns nicht.«
»Ich verstehe. Nachdem Sie nun meine Fragen so offen beantwortet haben, habe ich noch eine letzte. Wenn Sie an meiner Stelle wären, welche Frage würden Sie dem Konsul der Hexen stellen?«
Zum ersten Mal lächelte Dr. Lanselius.
»Ich würde ihn fragen, wo ich die Dienste eines gepanzerten Bären bekommen könnte«, antwortete er.
Lyra setzte sich auf. Sie spürte, wie Pantalaimons Herz in ihren Händen schlug.
»Ich dachte immer, die Panzerbären ständen im Dienst der Oblations-Behörde«, erwiderte Farder Coram überrascht. »Ich meine natürlich, der Gesellschaft zur Erforschung des Nordens, oder wie sie sich nennt.«
»Es gibt zumindest einen, für den das nicht zutrifft. Sie finden ihn im Schlittendepot am Ende der Langlokur-Straße. Dort verdient er sich zur Zeit seinen Lebensunterhalt, aber es kann angesichts seines Temperaments und der Angst, die er den Hunden einjagt, sein, daß er seine Arbeit bald wieder verliert.«
»Er ist also ein Abtrünniger?«
»So könnte man sagen. Er heißt Iorek Byrnison. Sie wollten wissen, was ich fragen würde, und ich habe es Ihnen gesagt. Hören Sie jetzt noch, was ich tun würde: Ich würde mir die Gelegenheit, die Dienste eines Panzerbären zu bekommen, auf keinen Fall entgehen lassen, selbst wenn er nicht gerade in der Nähe wäre.«
Lyra hielt es kaum noch auf ihrem Stuhl aus. Farder Coram wußte jedoch, wie man sich bei Begegnungen wie dieser zu benehmen hatte, und nahm noch einen der aromatischen Honigkuchen vom Teller. Während er ihn aß, wandte sich Dr. Lanselius an Lyra.
»Soviel ich weiß, besitzt du ein Alethiometer«, sagte er zu ihrer großen Verwunderung. Woher konnte er das bloß wissen?
»Ja«, sagte sie und fügte, nachdem Pantalaimon sie gezwickt hatte, hinzu: »Möchten Sie es sehen?«
»Sehr gern.«
Linkisch zog sie das Samtpäckchen aus dem Beutel aus Ölhaut und reichte es ihm. Er wickelte es aus und hielt das Alethiometer ganz vorsichtig hoch. Dann starrte er auf das Zifferblatt wie ein Wissenschaftler auf ein seltenes Schriftstück.
»Herrlich!« sagte er. »Ich habe einmal ein anderes Exemplar gesehen, aber es war nicht so schön wie dieses. Besitzt du auch das Buch mit den Deutungen?«
»Nein«, begann Lyra, aber bevor sie noch etwas sagen konnte, sprach Farder Coram.
»Nein, es ist jammerschade. Zwar gehört Lyra das Alethiometer, aber wir wissen überhaupt nicht, wie man es liest. Es ist genauso geheimnisvoll wie die Tintenlachen, aus denen Hindus die Zukunft lesen. Und das nächste Buch der Deutungen, das ich kenne, befindet sich in der Abtei Sankt Johann in Heidelberg.«
Lyra wußte zwar, warum Farder Coram das sagte; er wollte nicht, daß Dr. Lanselius von Lyras Fähigkeit erfuhr. Aber sie merkte auch etwas, das Farder Coram nicht merken konnte: die plötzliche Aufregung von Dr. Lanselius’ Dæmon. Schlagartig wurde ihr klar, daß es ein Fehler wäre, sich zu verstellen.
Deshalb sagte sie, halb an Dr. Lanselius und halb an Farder Coram gewandt: »Ich kann es übrigens doch lesen.«
»Das ist klug von dir«, sagte der Konsul. »Woher hast du das Alethiometer bekommen?«
»Der Rektor von Jordan College in Oxford hat es mir gegeben«, erwiderte sie. »Wissen Sie, wer diese Instrumente gemacht hat, Doktor Lanselius?«
»Angeblich stammen sie aus Prag. Der Wissenschaftler, der das erste Alethiometer erfunden hat, suchte offenbar nach einer Methode, mit der man den Einfluß der Planeten messen konnte, von dem die Astrologie spricht. Er wollte ein Gerät bauen, das sich nach dem Mars oder der Venus richtet wie
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