Der goldene Kuß
leuchtete, als habe es die Sonne des Sommers aufgespeichert. »Ich bekomme die Hauptrolle in ›Der goldene Kuß‹. Morgen ist die erste Besprechung im Studio I.« Dann umarmte sie die Witwe Mayer, küßte sie und wirbelte sie im Zimmer herum. »Die Hauptrolle! Im ›Goldenen Kuß!‹ Ich werde verrückt vor Freude, Mama Mayer.«
Erschöpft ließ sich Witwe Mayer auf einen ihrer alten, ächzenden Sessel fallen. Sie hob den zu Boden geflatterten Brief auf, drückte ihn fast an ihre Augen – sie war kurzsichtig und hatte ihre Brille nicht zur Hand – und las die wenigen Zeilen.
»Was ist das: ›Der goldene Kuß‹?«
»Ich weiß es nicht.« Vera breitete die Arme aus. »Es ist auch völlig gleichgültig! Die Hauptrolle! Ich kann zeigen, was ich kann!«
»Und was du hast, Kindchen«, sagte die Witwe Mayer ernst.
»Das ist ein Vorurteil, Mama Mayer.« Sie umarmte ihre alte Wirtin von hinten und gab ihr einen Kuß auf die faltigen Wangen. »Ich weiß jetzt, daß sie mich wirklich nur wegen meines Talentes genommen haben.«
Man sieht – Vera Hartung war noch sehr jung und unerfahren.
Am nächsten Morgen wurde es ernst.
Um elf Uhr versammelten sich alle bisher engagierten Mitwirkenden der neuen Show ›Der goldene Kuß‹ im Studio I.
Studio I war der größte Aufnahmeraum des Senders. Bei Sendungen wie dem ›Goldenen Kuß‹ ging man in die großen Hallen der Städte, in die Festsäle, die mehrere tausend Menschen faßten. Geprobt aber wurde zunächst im Studio. In den Musik-Studios wurden bereits einzelne Musikstücke aufgenommen, im Playback-Verfahren … zuerst das Orchester, dann – wenn notwendig – der Chor, zuletzt der Solist. Er stand dann mit Kopfhörern vor dem Mikrophon, hörte die auf Band konservierte Musik ab, wartete auf seinen Einsatz und sang seinen Part frisch-fröhlich auf alles Aufgenommene oben drauf. Das Ganze wurde dann ein toller Schlager, ein Hit, eine rauschende Musik, ein Ohrwurm, wie man in der Branche sagt. Alles hing dann ab von der Kunst des Sängers, seine Lippen bei der Sendung so zu bewegen, daß es aussah, als sänge er in diesem Moment wirklich selbst. Auch die Zuschauer in den Riesenhallen sollten es glauben. Nur wenige wußten, daß über die Lautsprecher ein Tonband abrollte, das Wochen vorher mehrmals eingespielt war. Der Star bewegte die Lippen, also sang er. Die Illusion der Mattscheibe.
Die Leere des großen Studios I war bedrückend. Ein paar Scheinwerfer standen in den Ecken, sonst war nichts aufgebaut. Häßlich und feindlich starrten die Wände Vera an, als sie durch die dicke, gepolsterte Tür eintrat. Auf Stühlen saßen im Halbkreis die anderen Kollegen um ein Podest, auf dem in Art eines Guckkastens das Modell eines Szenenbildes aufgebaut war. Der Fernseharchitekt saß neben seinem Werk und wartete auf die Meckereien des Programmdirektors. Der Regisseur der Show, Detlev Cranz, hatte schon seine Meinung gesagt. Sie war, wie erwartet, schlecht.
Theo Pelz sprang auf, als er Vera ins Studio kommen sah. Alle Köpfe wandten sich zur Tür, und fünfzig Augen musterten sie. Vera nickte den abtastenden Augen zu und holte tief Atem.
»Das ist Vera Hartung!« sagte Theo Pelz laut. »Unser neuer Star. Wir begrüßen dich, Vera.«
Die Anwesenden klatschten kurz. Das Herz schlug Vera bis zum Hals. Sie wußte: Damit bin ich aufgenommen in den Kreis. Sie haben geklatscht. Ich gefalle ihnen.
Theo Pelz begrüßte sie mit einem Wangenkuß, dann kam aus dem Halbkreis der Stühle ein Männchen hervorgeschossen, mager, mit einem Spitzbart, einer dicken Brille und viel zu langen Armen. Er ergriff Veras rechte Hand und küßte sie.
»So habe ich mir mein Wesen vorgestellt!« rief er enthusiastisch. »Wenigstens ein Lichtblick in diesem Saustall!«
»Der Autor!« Theo Pelz sagte es, als stelle er ein Stinktier vor. »Kümmern Sie sich nicht um ihn, Vera … Autoren haben immer zu meckern. Sie denken sich einen schrecklichen Mist aus, und wir müssen daraus eine Sendung machen.«
»Der Blitz sollte euch alle erschlagen!« Der kleine Mann rannte zurück zum Halbkreis und setzte sich auf seinen Stuhl. »Wenn ihr den Autoren nicht hättet, müßtet ihr Stummfilme bringen.«
»Die waren noch immer ein Erfolg, risikolos.« Theo Pelz führte Vera zu einem Stuhl neben sich. Mit einem Zucken im Herzen las Vera ihren Namen auf der Lehne.
V. Hartung.
Sie hatte ihren eigenen Stuhl, wie es einem Star gebührt. Als sie sich setzte, hatte sie das Gefühl, sich auf einem Thron
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