Der goldene Kuß
Brust, ein Kragen mit gewaltiger Schleife und ein tausendfach geflickter Frack, an dem eine Kragenseite fehlte. An ihrer Stelle war ein Blechstück, das aus verschieden dicken Stücken bestand. Hämmerte man dagegen, klang es wie ein Xylophon.
Schnell und sicher verwandelte sich das Gesicht Veras. Ein Clowngesicht ist kein Problem für einen Maskenbildner. Schwieriger ist es, historische Personen zu zaubern, einen Bismarck etwa oder einen Napoleon. Nicht jeder Schauspieler, der so etwas darstellen soll, hat Ähnlichkeit mit den wahren Personen. Hier ist es die Kunst des Maskenbildners, mit Schminke, Plastikmasse und falschen Haaren die Illusion zu schaffen, Napoleon reite wirklich an der Spitze seiner Truppen in die Schlacht.
Ein leichtes Brennen zog über Veras Haut. Sie zuckte ein paarmal mit den Wangen, aber achtete nicht weiter darauf. Soviel dicke Schminke, dachte sie, das kennt die Haut noch nicht. Als das Jucken stärker wurde, öffnete sie die Augen und sagte es dem Maskenbildner.
»Das gibt sich.« Er zog einen weiten Kreis in Rot um die Lippen. »Ich habe bei Ihnen besonders viel eingefettet, weil Sie es noch nicht gewohnt sind. Um so leichter geht's nachher ab …«
Die Tür wurde aufgerissen und ein junger Männerkopf erschien. Der zweite Regieassistent. »Cranz wartet!« schrie er ins Zimmer. »Los, macht schnell, Kinder!«
»Schon fertig.« Der Maskenbildner überpuderte noch einmal das Clownsgesicht Veras, damit es nicht zu sehr glänzte. Unter den Scheinwerfern und im Fernsehbild wirkte manches anders, als es das menschliche Auge normal sieht. Selbst Politiker müssen sich vor der Fernsehkamera schminken lassen, und das, obschon sie von Berufs wegen immer eine Maske tragen.
»Viel Glück!« Der Maskenbildner drückte beide Daumen. »Sie sind eine geduldige Patientin, Fräulein Hartung.«
»Das ist doch selbstverständlich.«
»O Himmel! Es gibt da Kolleginnen von Ihnen, die wegen eines kleinen Strichs ein großes Theater abziehen. Eine verrutschte Locke … und ein Erdbeben folgt. Ich kann Ihnen da Sachen erzählen …«
Vera Hartung rannte über den langen Gang zum Studio III. Detlev Cranz ließ noch einmal – ohne Dodo – das Orchester Jonny Bender proben. Hier gab es kein Playback-Verfahren, hier wurde alles live aufgenommen. Was Dodo macht, sitzt … das hatte der große Clown verlauten lassen.
»Meine Süße!« Cranz klopfte Vera auf die Schulter. Es gehörte schon Mut dazu, diesen Clown Süße zu nennen. Die Umstehenden grinsten. »Alles behalten? Dodo macht erst seine Nummer mit der Gummigeige. Dann kommst du und tanzt einen Charleston. Du animierst Dodo, der mittanzen muß, auch wenn er nicht will. Am Ende tanzt ihr eine Nummer, die die Zuschauer vom Stuhl reißt. Am Schluß fallt ihr beide um, als wäret ihr tot. Jonny geht vom Charleston über in einen Trauermarsch. Es kommen zweimal sechs Männer im Gehrock und Zylinder und tragen euch würdevoll hinaus. Süße, die Szene muß beim ersten Anlauf sitzen. Wir nehmen gleich auf! Bei der Probe war ja alles bestens!« Cranz sah sich um. »Können wir?«
Von der anderen Seite des Studios winkte Dodo, der große Meister. Alles klar. Die Kameras schwenkten ein. Chefkameramann Helmke fuhr mit der Hydraulik nach oben, um von der Studiodecke aus die Aufnahmen zu machen, ein besonders wirkungsvoller Blickwinkel.
»Ruhe im Stall!« brüllte Cranz.
Plötzlich war Totenstille. Keiner schien zu wagen, laut zu atmen. Die Scheinwerfer blendeten auf, gleißendes Licht lag über der Szene … eine Zirkusmanege, aber ohne das Sand-Sägemehl-Gemisch, sondern ausgestattet wie ein Salon aus den zwanziger Jahren.
Vom Bildmischpult und aus dem Tonraum wurde über Kopfhörer mitgeteilt: Alles klar.
»Na, denn los!« sagte Cranz laut und gab Dodo das Zeichen.
Die große Nummer begann. Was sie kostete, hatte Pelz schamhaft verschwiegen. Man konnte die Honorarsumme nur raten. Aber dafür war es der erste Fernsehauftritt Dodos überhaupt.
Die Gummigeige. Dodo kämpfte mit ihr wie mit einer Riesenschlange. Die vielleicht fünfzig Zuschauer hielten den Atem an. Die Kameras summten, die Scheinwerfer glitten mit, wohin Dodo mit seiner widerspenstigen Geige flüchtete, Jonny Benders Orchester untermalte fehlerfrei. Am Mischpult saß der junge Regieassistent und schwitzte vor Aufregung. Das Urteil über ihn kam hinterher, wenn die Ampex-Aufzeichnung ablief. Plötzlich war auch Theo Pelz da, stand hinter ihm und sah zu, wie er mischte. »Gut so«, sagte er
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