Der goldene Schwarm - Roman
ankommen zu lassen.«
»Ich glaube, sie ist funkgesteuert«, sagt Polly vorsichtig. »Ich erinnere mich an den Katalog.«
»Oh.« Er schaut die kleine Linse an. Plötzlich kommt sie ihm sehr lebendig vor. »Na, dann beeilen wir uns besser.« Er grinst ohne Reue, und sie lacht.
Einige Augenblicke später benutzt Joe im Schatten der gewellten Eisenwand denselben Bolzenschneider, um das Vorhängeschloss der Tür mit der Nummer 334 zu knacken. Er zwängt sich hindurch, schließt dann die Tür und schaltet das Licht an.
»Wow«, sagt er nach einem Moment.
Mit ziemlicher Sicherheit gibt es keinen anderen Ort in ganz England – möglicherweise auf der ganzen Welt –, der so orange ist. Endlose Reihen von nummerierten orangefarbenen Containern und dahinter orangefarbene Türen in orangefarbenen Wänden. Es ist kein zartes Sonnenuntergangs- oder Wandfarben-Orange, sondern ein grelles Wachsfrüchte-Orange, das keine Kompromisse kennt. Es ist die Art von Orange, die es einem ermöglichen würde, seinen Container auch in einem Schneesturm oder nach einer Lawine zu finden.
Polly Cradle vermutet, dass er auch das Schloss am Container C193 durchschneiden wird, aber das tut er nicht. Stattdessen hebt er einfach die Tür aus den Angeln. Das Vorhängeschloss nutzt er als Scharnier.
Im Inneren befindet sich ein Mann.
Er sitzt mit dem Rücken zu ihnen in einem großen Ledersessel. Er trägt einen Hut und Handschuhe. Neben seiner linken Hand ruht eine Stoffreisetasche und neben seiner rechten ein Posaunenkoffer. Er bewegt sich nicht.
Joe Spork schiebt sich voran und atmet erleichtert aus. Es ist bloß die Kleiderpuppe eines Schneiders. Ein echter Brüller, denkt er. Ganz Mathew. Ein kleiner Schock, damit man auch auf der Hut bleibt. Eine Mutprobe. Vielleicht auch nur zum Spaß. Mathew selbst hätte vielleicht auf die Puppe geschossen, und das hätte einen vollkommen brauchbaren Hut ruiniert. Genau die Art von Hut, an die Joe einige Stunden zuvor gedacht hat. Ein Hut, um Dance-Hall-Girls zu verzaubern und das Gesicht eines Mannes zu beschatten, während er illegalen Schnaps verhökert. Er tritt näher heran.
Der Reißverschluss der Stofftasche ist dick und hakt. Joe zerrt daran, zurück, wieder vorwärts, dann zurück. Ja. Die Tasche öffnet sich.
Hemden. Ein Geldbündel, vielleicht tausend Pfund in nutzlosen veralteten Zehn-Pfund-Noten. Ein kleiner Beutel, der etwas enthält, bei dem es sich nur um Juwelen handeln kann. Der heutige Wert in der ehrlichen Welt: ein paar hunderttausend. Etwas Kleingeld. Eine Zahnbürste, da Mathew es gehasst hat, ohne eine unterwegs zu sein, und einige Obstkonserven. Eine Flasche Scotch, ein Päckchen Tabak. Und … oh. Ein weiterer Stapel Polaroids, diesmal recht obszön: Ein rundlicher Typ, der sich in reichlich weiblicher Gesellschaft auf einer von Mathews Partys auf einem Sofa räkelt. Nicht viel erwähnenswerte Kleidung, und einige der Damen sind in Stellungen abgelichtet, die das ein oder andere Boulevardblatt womöglich für ein wenig unanständig halten könnte . Der Hon Don vergnügt sich, 1 von 6, steht auf der Rückseite in Mathews Handschrift. Ordentliches Erpressungsmaterial, und natürlich – genau das war es auch, was der einigermaßen unehrenhafte Donald erwartete, als Joe ihn neulich angerufen hat.
Er schaut sich um und entdeckt, was er gesucht hat, locker an den Posaunenkoffer geheftet: eine frivole Postkarte aus Brighton, vermutlich etwa aus dem Jahr 1975, auf dem ein keckes Disco-Girl zu sehen ist, dem gerade das Kleid vom Körper gleitet.
Joe betrachtet die Karte und betet zu Gott, dass der Text auf der Rückseite nicht lang oder gequält ist, vor allem aber, dass Mathew sich nicht bei ihm entschuldigen, sich selbst anklagen oder ihm mitteilen will, dass er in fünf Grafschaften Schwestern hat und einen Bruder in Schottland. Oder dass sich unter seinem Lagerhaus ein Friedhof verbirgt.
Joe , steht in großen, freundlichen Buchstaben darauf. Öle den Abzug und achte auf die Sicherung, sie ist lose. In Liebe, Dad.
Hier, in diesem Raum, findet sich nun also der Beweis dafür, dass Mathew Spork der von ihm gezeugte Sohn am Herzen gelegen hat, eine Geste der Liebe und eine Bitte um Absolution. Nicht bloß ein Memento oder eine Kiste mit Fluchthilfsmitteln. Ein Gangster-Fallschirm. Nur für den Fall, dass das mit dem ehrlichen Lebenswandel nicht funktionieren sollte.
Ohne zu zögern, zieht Joe die Puppe aus und wechselt seine Kleidung. Der Anzug hängt ein bisschen weit an
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