Der goldene Schwarm - Roman
Schluss kommen, dass er nicht der Erbe, sondern der Feind ist?
Er richtet seine Gedanken wieder auf die Aufgabe, die es zu lösen gilt.
Kein Muster. Die Verbindungslinie? Wie eine Eins? Nein. Bedeutungslos. Das Quadrat der Platte? Es scheint zu einfach, und auch dies bedeutet nichts. Es gibt keine Möglichkeit sicherzugehen. Frankie war besessen von Gewissheit, im Guten wie im Schlechten. Und doch gibt es hier kein Muster. Eine Leerstelle. Kein System, wo ein System sein sollte.
Er tritt zurück, denkt nach, befragt das Rätsel.
Was verbirgt die Bodenplatte?
Eine Negation. Nichts, wo etwas gewesen ist, eine überaus binäre Vorstellung … keine Eins, eine Null.
Und da hast du deine Lösung.
Na schön, eine Null. Die in welche Richtung gezeichnet werden soll? Wie schreibt ein beidhändiges französisches Supergenie seine Zahlen?
Wie es will.
»Welche Richtung?«, murmelt er vor sich hin.
Polly Cradle kniet sich neben ihn und küsst ihn auf die Stirn, als wolle sie ihn segnen. Sie zieht mit ihrem Finger einen Kreis, und ihm wird klar, dass sie zur selben Zeit dasselbe begriffen hat. Bestätigung. Unterstützung. Er nimmt sich einen Moment, um sich über ihre Anwesenheit zu freuen, über ihren erstaunlichen Geist, den er einen Augenblick lang als einen wundervollen mechanischen Engel in ihrem Kopf vor sich sieht.
»Im Uhrzeigersinn«, sagt sie. »Natürlich.«
Im Uhrzeigersinn. Eine letzte Botschaft an Daniel. Tu’s, und alles wird sein, wie es sein sollte. Irgendwie.
Oh, Frankie.
Er bewegt die Schlüssel in einem Kreis, beginnt bei zwölf Uhr und führt sie rechts herum. Einen Augenblick später gleitet die Platte beiseite. Er späht hinein und erblickt das kleine fest verschnürte Päckchen Sprengstoff. Wenn er die Schlüssel in die falsche Richtung bewegt hätte … Nun, er ist sehr froh, dass er’s nicht getan hat. Er greift hinein und hält dann ganz unvermittelt einige Seiten handschriftlicher Notizen in den Händen. Er blättert sie durch und legt sie beiseite.
»Was ist das?«, fragt Polly.
»Der Aus-Schalter«, erwidert Joe und fügt, als sie ihn streng anschaut, hinzu: »Na ja, gut. Kein Schalter. Eine Aufstellung davon, was man in welcher Reihenfolge zerstören muss, damit die Welt nicht untergeht. Ein Sabotage-Handbuch.«
Bastion schnuppert von Pollys Handtasche aus mit seiner kleinen Schnauze und knurrt.
Ich bin bereit, Horologe. Lass uns fortfahren.
Joe Spork schaut den Hund an.
»So einfach, ja?«
Auf dem Weg nach draußen schließen sie alle Türen und hinterlassen alles genau so, wie sie es vorgefunden haben. Am Bahnhof klaut Joe ein weiteres Auto.
»Wohin jetzt?«, fragt Polly.
Joe greift in seine Tasche und reicht ihr das Polaroid von Mathew und Tam. »Zum Herrenausstatter«, sagt er.
Zu Onkel Tam zu kommen, dauert länger, als Joe erwartet hat, weil so viele Menschen London verlassen. Die Radiosendungen sind voll von beunruhigten Gläubigen und herablassenden Realisten. Experten sind aufgetrieben und herbeigeschleift worden: Katastrophenmathematiker, Anwälte und Comedians tragen alle ihren Teil zum Gemenge bei. Man könnte es nicht als Panik bezeichnen, noch nicht. Eher eine Art Zittern in der Luft, wie das Herannahen eines Gewitters.
Das Haus befindet sich am Ende einer engen Straße.
Klopf klopf.
»Wer ist da?«
»Ich bin’s, Tam.«
Mit einem frisch geklauten Mercedes und einer Freundin, die selbst wie ein wandelndes Verbrechen aussieht.
Tam brüllt durch die geschlossene Tür. »Nein, falsch! Das ist die Stelle, wo Sie sagen sollten: Ach du Scheiße, es ist erst fünf Uhr früh? Tut mir echt leid, ich muss ja wohl ein totales Loch im Kopf haben!«
»Korn und Kummer, Tam. Ich bin’s, Joe Spork.«
Onkel Tam – schlanker und grauer, aber offenkundig das Original – reißt die Tür auf und starrt ihn mit leuchtenden Erdmännchenaugen im zerklüfteten Gesicht an.
»Scheiße. Ich nehm an, das war unvermeidlich. Hab ich dir nicht beigebracht, junger Ritter Lochinvar – der du auf der Flucht bist und eine Pest den Häusern der Menschen –, dass die Leute vom Markt keine Namen tragen? Wir sagen nicht: Ich bin . Wir sagen: Man nennt mich . Und der Grund dafür ist nicht, dass die Feen uns nicht die Zähne stehlen können, wenn wir in der Mittsommernacht mit offenem Mund schlafen, sondern schlicht, damit wir’s besser abstreiten können. Damit der alte Tam nicht auf Ausreden zurückgreifen muss wie: Ich bin ein uralter Esel, Herr Wachtmeister, und viel zu senil, um
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