Der goldene Schwarm - Roman

was man ihnen in meiner Kindheit nachgesagt hat: die Wahrheit sammeln und sie von der Unwahrheit scheiden. Die Lügen werden eingehen, und mit der Zeit wird sich eine Nettoverbesserung der conditio humana um neun Prozent ergeben. Edie weiß, wie es funktioniert.
    Ihr müsst verstehen, dass es nicht ohne Schmerzen ablaufen wird. Die Welt wird die Wahrheit zurückweisen. Sie hat es immer getan und wird es wieder tun. Es wird zu Gewalt kommen. Doch es gibt genügend gute Menschen, sodass die Dummen und die Bösartigen uns nicht hinabziehen werden. Es wird eine bessere Welt entstehen.
    Das Verbot ist weitaus ernster. Sehr ernst. Es ist wie bei Nuklearmaterial: Man bringe nicht zwei unterkritische Teilmengen Uran in großer Geschwindigkeit zueinander, wenn man eine Explosion vermeiden will. Nur dies ist noch viel wichtiger!
    Die Welle, die die menschliche Seele darstellt, ist fragil. In Whistithiel habe ich erlebt, wie fragil sie ist, und das war gerade einmal der Anfang. Versteht ihr? Wenn der Anschauungsapparat nicht korrekt kalibriert wird, mutet er dem menschlichen Geist ein Übermaß an Wissen zu, und der menschliche Geist wiederum determiniert die Welt. Bei vollkommener Wahrnehmung aller Aspekte des uns zugrundeliegenden Universums erreichen wir das Ende der Ungewissheit, das Ende der Wahl. Ohne Wahl kein Bewusstsein. Ohne eine ungewisse Zukunft gibt es überhaupt keine Zukunft mehr. Nach einem gewissen Punkt wäre es möglich, dass dieser Prozess sich verselbstständigt. Was möglich ist, würde vergehen und ersetzt werden durch … unabänderliche Geschichte. Eis anstelle von Wasser. Das Leben würde newtonisch werden. Ein Uhrwerk.
    Dies ist, was Shem Shem Tsien sich von mir wünscht. Von der Maschine. Er wünscht sich eine große, entsetzliche Determination. Er wird das Universum bis zu einer Form der Auslöschung erkennen. Seine Vereinigung mit Gott wird erst abgeschlossen sein, wenn er beendet hat, was Gott in Gang setzte. Aus welchem Grund auch immer, sehnt er diese Katastrophe mehr als alles andere herbei.
    Er wird, wenn man ihn nicht aufhält, alles zerstören, nicht nur für den Augenblick, sondern für alle Zeit. Unser Universum wird in der Leere treiben als ein fester, unveränderlicher Block.
    Wenn er bereits in Erscheinung getreten sein sollte, so könnt ihr ihm nicht trauen. Niemand kann das. Wenn er den Anschauungsapparat besitzt, dann sind seine Absichten grauenhaft. Ihr müsst ihn aufhalten. Ihr müsst.«
    Die Aufnahme stoppt. Der numinose Geist von Frankie Fossoyeur hängt vor ihnen in der Luft und deutet zur Seite.
    Joe beugt sich erst zur einen, dann zur anderen Seite, schätzt den Winkel ab. Dann legt er sich flach hin und betrachtet die Bodenplatten, steht wieder auf und tippt zart gegen die polierte Decke. Einen Moment lang denkt er darüber nach, dass dies das größte und schönste bewegliche Kunstwerk ist, das er jemals zu Gesicht bekommen hat. Ruskiniten-Arbeit, wie ihm klar wird, aus den Tagen vor Shem Shem Tsien. Nur dafür könnte er den Mann schon hassen, für die Zerstörung des Ordens von John, dem Werker. Wenn es nur nicht so viele andere Dinge gäbe, für die man ihn hassen muss.
    Da. Unter seinen Fingerspitzen: ein zarter Strich am Boden. Er folgt ihm rauf und runter. Ein Siegel. Was auf ein dahinter liegendes Fach schließen lässt. Doch wie soll er es öffnen? Wenn Daniel diese Vorrichtung gebaut hat, ist die Lösung elegant. Wenn sie von Frankie stammt, ist sie vielleicht mathematisch … nein. Sie hat dies für einen Menschen mit normalem Verstand bestimmt. Für jemanden, der sie kennt. Wie also … oh. Natürlich. Er zieht die Autoschlüssel aus seiner Tasche, bewegt sie sacht über die Bodenplatte. Ja, dort – die Schlüssel zucken über dem Holz, als würden sie von einem Windstoß getroffen. Ein Magnet auf der Innenseite, was bedeutet, dass jedes Metall dazu in der Lage sein würde, den Riegel zu lösen. Es gibt jedoch kein Muster. Woher soll er wissen, welche Bewegung die Platte lösen wird? Er vermutet, dass ein falscher Schritt weitaus schwerere Konsequenzen nach sich ziehen würde als einen bloßen Zeitverlust. Frankie hatte es zu diesem Zeitpunkt gelernt, Vorsicht walten zu lassen, dessen ist er sich ganz sicher. Er fragt sich, ob eine jahrzehntealte Sprengladung immer noch funktionieren würde und sie ihn, wenn er sie nicht bald entsichert, in die Luft jagen würde, nur weil er hier im Raum ist. Wie viel Zeit bleibt ihm? Wann wird der Geist seiner Großmutter zu dem