Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Goldkocher

Der Goldkocher

Titel: Der Goldkocher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roland Adloff
Vom Netzwerk:
entweichen. Dann kam morgens hektische Betriebsamkeit auf. Lips schnappte das Wort Deputierten-Ausschuss auf. Er wusste, dass dies der Tag war, der über sein Leben entscheiden würde. Der Hausvater lief gereizt durch die Flure und prügelte auf jeden ein, der nicht rechtzeitig ausweichen konnte. Und der Präzeptor ließ sie beim Unterricht in Christentum, der an diesem Morgen länger dauerte, die zweite Strophe des Kirchenliedes lernen. Alle mussten sich danach gründlich waschen, gegenseitig die Haare nach Getier durchstreifen, und sie bekamen saubere Leibwäsche. Dann mussten sich alle im Flur aufstellen. Der Hausvater kontrollierte immer wieder die Reihen, ob sie auch die Aufstellung sauber einhielten und schloss Lips und einigen anderen Jungen den Klotz vom Bein. Zuerst gingen die reformierten Mädchen in Fünfergruppen hinunter. Das Mädchen, das Lips aufgefallen war, richtete sorgfältig ihr Haar und zupfte immer wieder an ihrem groben Sacktuch. Sie fehlte, als die ersten Mädchen wieder zurückgebracht wurden. Einige weinten.
    Es folgten die lutheranischen Jungen, dann die reformierten Kinder. Zuerst wieder die Mädchen, dann die Jungen. Nur wenige Kinder kamen nicht zurück. Lips war in der letzten Gruppe, die der reformierte Präzeptor hinunterführte. Sie blieben vor einer Tür stehen. Gottesstube stand auf einem Schild.
    »Nach unten gucken!«, sagte der Präzeptor.
    Dann ging die Tür von innen auf, und mit gesenkten Köpfen folgten sie dem Präzeptor. Hinter einem Tisch saßen einige Herren. Wie Lips aus dem Augenwinkel sehen konnte, trugen alle feine Beinkleidung und Schuhe mit guten Schnallen und hohen Absätzen. Auf dem Tisch stand ein Kruzifix. An der Wand zur linken Hand warteten die Jungen und Mädchen, die als Mägde und Knechte ausgesucht worden waren. Lips sah etwas zur Seite, und ihn traf der Blick seines Bettnachbarn, der mit seinen Augen lachte. Neben diesem stand das Mädchen, das Lips beobachtet hatte.
    »Das sind die Letzten!«, sagte der Präzeptor und dirigierte sie, sodass sie sauber in einer Reihe vor dem Tisch standen.
    »Jetzt schaut doch nicht so betrübt!«, sprach ein Mann, von dem Lips zuerst das schwarze Pastorenkleid sah. Die gefalteten Hände lagen auf einem Buch. »Seht doch auf! Der Herr hat euch das Augenlicht geschenkt, damit ihr seine Pracht und Herrlichkeit auf Erden seht!«
    Als Lips aufschaute, schreckte er zusammen. Da saß Arnold! Nein, natürlich war es nicht Arnold. Der war doch schon lange Jahre tot! Der Pfarrer war auch viel jünger, als Lips Arnold in Erinnerung hatte, und der Pfarrer trug auch eine Halskrause und eine hohe, schlohweiße Perücke, aber im Gesicht hatte er die Züge von Arnold: die etwas kantige Nase und das vorgestreckte Kinn, die milden, lebhaften Augen, und auch der Klang der Stimme erinnerte ihn an Arnold.
    »Was macht der denn für ein Ohrfeigengesicht!«, sagte ein Herr und nickte zu Lips, und der Herr neben diesem lachte verhalten mit.
    Lips spürte sich erröten, schloss den Mund und sah wieder nach unten.
    »Bitte, die Herren!«, mahnte der Pfarrer. »Wir sind gleich durch. Nun schau schon auf, mein Sohn! Du brauchst dich nicht schämen. Bitte, Herr Medicus.«
    Ein Medicus mit einem hohen, spitzen Hut kam um den Tisch herum. Vor dem Jungen ganz links in ihrer Reihe blieb er stehen. Er ließ sich die Zunge zeigen, ruckelte an den Zähnen und sah ihm in die Augen, als suche er darin etwas.
    »Und?«, fragte der Pfarrer.
    »Gesund!«, sagte der Medicus.
    Der Name des Jungen wurde erfragt, dann Herkunft und Alter, aber der Junge sprach ganz gebrochen und unverständlich. Der lutheranische Präzeptor saß am Tisch und wartete mit der Feder in der Hand, was er aufschreiben sollte.
    »Zigeunerblut!«, sagte der Herr, der Lips vorher ausgelacht hatte. »Sieht man doch! Die braune Haut. Pfarrer Porstmann, bei aller Christenliebe! So einen lass ich mir doch nicht andrehen. Ehrwürden, der Junge vertreibt mir doch die Kundschaft!«
    »Weiter jetzt!«, drängte ein anderer.
    Schließlich war Lips an der Reihe. »Und du, mein Sohn?«, fragte der Pfarrer. »Wie heißt du?«
    »Ich bin Lips«, hörte er sich fest sagen. »Lips Arnold.« Er beobachtete die Männer, die gedämpft miteinander sprachen und ihn nicht beachteten. Dies war die einzige Gelegenheit, dem Arbeitshaus zu entkommen! »Mein Vater war der Schnallenmacher Arnold. Er ist vor einiger Zeit gestorben.«
    »Bitte, die Herren!«, mahnte der Pfarrer, der mit dem Namen Porstmann angesprochen

Weitere Kostenlose Bücher