Der Goldkocher
etwas, und er hob die Schultern. »Gottes Wege sind unergründlich!«
Wenig später folgte Lips dem Apotheker Zorn und dem Pfarrer aus dem Armenhaus. Während sie sich von den anderen Herren verabschiedeten, musste Lips immer wieder zu dem Pfarrer sehen, der diese große Ähnlichkeit mit Arnold hatte und von den anderen mit besonderem Respekt behandelt wurde.
»Du kennst mich nicht!«, sagte das Mädchen triumphierend, das neben ihm stand. Sie drehte an ihren schwarzen Locken und ließ ihre Augen nicht von dem Apotheker, der nun hinter dem Pfarrer in die Kutsche stieg. »Aber ich kenne dich!«
Lips wurde ganz heiß, und er schaute sich um, als würde ihn jemand verfolgen, aber nirgends sah er eine Bewachung. »Woher kennst du mich denn?«, fragte er leise und überlegte, ob er nicht einfach weglaufen sollte.
»Ich hab dich beobachtet.« Sie blickte ihn kurz mit seitlich geneigtem Kopf an, benetzte ihren Zeigefinger mit Spucke und strich sich damit die Augenbrauen entlang. »Du bist der Lips.«
»Wo hast du mich denn beobachtet?«, flüsterte er.
»Na, hier im Armenhaus, wo denn sonst? Du wolltest abhauen, stimmt's?«
»Du doch auch!«
Sie schien einen Augenblick überrascht und lachte ihn dann mit einem verschwörerischen Augenzwinkern an. »Stimmt! Und hierhin bringt mich niemand mehr zurück!« Sie nickte entschieden. »Ich werde nicht in so einem Dreckloch krepieren, sag ich dir! Nein, das ist nicht meine Natur.« Als sie nochmals ihre Spucke zwischen ihren Lippen hervorquellen ließ und den Finger damit benetzte, durchflutete Lips eine heiße Woge, als wäre er mit Rotkopf zum Bach geschlichen und hätte der Grabich-Wirtin vom Gebüsch aus zugesehen, wie sie die Wäsche auf die Steine schlug und dabei in ihrem Ausschnitt die Brüste wogten.
»Der ist reich, der Herr Apotheker!«, flüsterte das Mädchen. »Hast du gesehen? Der pudert sich sogar das Gesicht! Ich sag dir: Bei dem wird's wie im Paradies.« Sie sah weiter zum Apotheker. »Anna! Ich bin Anna!«
6
Sie folgten der Kutsche durch die Gassen der Vorstadt. Es war alles so schnell gegangen, und Lips misstraute seinem Glück. Er fragte sich mit bangem Herzen, was ihn erwarten würde, und schaute sich immer wieder um. Niemand folgte ihnen, er war wieder frei, konnte immer noch weglaufen. Anna lief neben ihm her und lächelte vor sich hin, als wäre sie auf dem Weg ins Paradies. Er ließ sich von ihrer frischen Zuversicht anstecken, sein Bangen fiel mit jedem Schritt von ihm ab, und eine hoffnungsvolle Leichtigkeit flog ihn an. Mit jedem Sprung über die Gossen war ihm, als würde er endlich die Welt hinter sich lassen, aus der er gekommen war.
Mit einem Schwung fuhr die Kutsche den gewaltigen Stadtwall hoch, vorbei an den wartenden Fuhrwerken auf dem Vorplatz vor dem Wassergraben, wo Lips von den Gassenmeistern aufgegriffen worden war. Die Fußreisenden, die in die Stadt drängten, standen in einer Traube vor einem Wachhäuschen und sahen zu ihnen herüber. Der Soldat am Schlagbaum ließ nach kurzem Wortwechsel mit dem Apotheker die Schranke hoch, und die Räder ratterten über die Bretter der Zugbrücke. Vor dem Stadttor trat ein Soldat an die Kutsche heran und machte eine Ehrenbezeichnung. Der Apotheker reichte einige Papiere aus der Kutsche, worauf ein zweiter Soldat hinzutrat. Dann sah dieser zu Anna und Lips hinüber und sprach nochmals in die Kutsche.
»Siehst du«, flüsterte Anna, »die brauchen nicht mal aussteigen! Das sind richtige Herren!«
›Gleich passiert es‹, dachte Lips, zum Sprung bereit. ›Gleich kassieren sie dich wieder ein.‹ Aber nichts geschah. Kurz darauf fuhr die Kutsche wieder an. Sie passierten das Tor und mussten sich sputen, dass sie mithielten. Lips wusste beim Laufen gar nicht, wohin er zuerst schauen sollte, und gleichzeitig musste er auf die vielen Pfützen und Gossen Acht geben, über die er sprang. Die Häuser waren viel höher als in Stollberg, auch war dichtes Leben in den Gassen. Sie kamen nochmals über eine Zugbrücke, da und dort sah Lips Kirchtürme hinter den dichten Häuserreihen emporragen. Schon bald kamen sie auf einen weiten Platz, auf dem Markt gehalten wurde. Die Kutsche fuhr um die Buden herum und hielt vor einem schmucken Haus. Die kratzigen Stimmen der Höker klangen vom Markt herüber.
ZORNsche APOTHEKE las Lips auf einem Schild über dem Eingang.
Die Männer stiegen aus. Der Pfarrer zeigte hoch in die Wolken und sagte etwas. Der Apotheker nickte ihm zu und richtete den Stehkragen
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