Der Goldkocher
still am Morgentisch. Er blickte immer wieder hinüber zum Haupthaus und kratzte seinen Ausschlag, den er über Nacht bekommen hatte. Die Haut im Gesicht blühte fleckig, und seine Hände waren aufgebrochen und so roh, wie er es damals bei Kunkel gesehen hatte. Böttger meinte – ohne ihm in die Augen zu sehen – der Ausschlag käme von der Lustsalbe, die Lips abgefüllt hatte. Er solle sich davor hüten, etwas von dem Zeug in die Augen zu reiben.
Lips tunkte sein Brot und lutschte davon, weil auch das Zahnfleisch wund war, da kam eine Magd in die Stube gestürzt. Der Hausknecht solle sofort loslaufen und den Medicus Dippel holen. Mit dem kleinen Zorn wäre etwas nicht in Ordnung. Er habe Schaum vor dem Maul und verdrehe die Augen.
»Wird die schwere Not sein«, sagte Böttger mit skeptischer Miene. »Vermute, er ist ein Epilepticus. Sie sollten ihm Corallensalbe in die Nasenlöcher schmieren.«
Bei den Morgenarbeiten trieb es Lips immer wieder zum Fenster. Hoffentlich würde der Junge überleben! Wie von selbst sprach Lips stille, kurze Wunschgebete – was er noch nie getan hatte. Nach den ganzen Krüppelkindern war dies das erste wirklich gesunde Kind des Apothekers! Es hieß, dieser wäre oben in der Wohnung von Pfarrer Porstmann, und sie beteten die ganze Zeit für den Jungen. Die Zornin würde allein beim Jungen sitzen und keine Arznei an ihn lassen. Nur einen Aderlass durfte der Medicus Dippel machen. Gegen Mittag war der Junge tot.
15
Als Lips am Nachmittag Arzneien austragen musste, eilte er zuerst zur Jungfernbrücke. Er stellte sich, als würde er auf das Wasser schauen, dann bückte er sich und besah das Zeichen unten am Balken des Geländers. Es musste frisch geschnitten sein. Vielleicht, sagte er sich, war es ja nicht vom Vater. Das war möglich, denn Zeichen wurden, wie Arnold damals erklärt hatte, von anderen Banden, Bettlerhorden oder Zigeunern mit ganz unterschiedlichen Bedeutungen benutzt. Der Pfeil zeigte hinüber nach Colin, das auf der anderen Seite der Brücke lag. Drüben auf dem Post- und Packhof drängten sich die Angekommenen zwischen Kutschen, Pferden und Türmen von Kisten und Reisekoffern.
Lips blickte sich um und überlegte, ob er dem Pfeil folgen sollte. Nein, wahrscheinlich war das Zeichen nicht vom Vater. Was sollte der denn auch hier in der Stadt! Nein, sagte er sich entschlossen, ging ein paar Schritte, dann drehte er wieder um und folgte dem Pfeil. Er wollte Gewissheit. Mehr nicht, sagte er sich. An der Friedhofsmauer der Petri-Kirche fand er einige versteckte Bettelzeichen neben dem Eingang, dann auch am Türpfosten eines Kaufmannsladens verschiedene Zeichen.
Die Kirchenglocken schlugen die vierte Nachmittagsstunde aus und erinnerten Lips an die Arzneien, die noch in die Heiligen-Geist-Straße gebracht werden mussten. Zurück nahm er wieder den Umweg über die Jungfernbrücke. Die Stadt musste voller Gauner und Banditen sein, denn je länger er suchte, desto mehr Zeichen fand er, die frisch gemalt, geritzt oder geschnitten waren. An der Schenke Zum Wilden Eber entdeckte Lips dann wieder das Zeichen des Vaters, aber der Pfeil war mit einem Strich durchkreuzt, was bedeutete, dass er nicht mehr dort war. Lips sah durch das offene Fenster vorsichtig in die Schenke. Es war ein Ort des untersten Volkes. Die Betrunkenen starrten stumpfsinnig vor sich hin. Es stank aus dem Fenster, als hätte man einen verlausten Straßenköter mit Branntwein übergossen.
Lips folgte der Richtung des Pfeiles. An der nächsten Straßenecke war die Gastwirtschaft Zum Schwarzen Adler. Die Tür ging auf, und ein Herr geleitete zwei junge Damen, die mit ihren hohen Schuhen wackelig wie auf Stelzen gingen, zu einer Kutsche, die vor der Gastwirtschaft stand. Die Damen waren noch greller geschminkt als die Huren auf der Jungfernbrücke und machten Umstände beim Einsteigen. Neben dem Haus war ein Zaun mit einer Toreinfahrt. Lips reckte sich und sah dahinter Wirtschaftsgebäude und Ställe. Auf dem Hof wurde ein Reitpferd mit Stroh abgerieben. Mit bangem Herzen suchte Lips die Bretter des Zauns ab. Da! Zwischen zwei Brettern entdeckte er das Zeichen des Vaters. Der Pfeil zeigte nach unten, was bedeutete, dass er an diesem Ort zu finden war. Lips sah sich ängstlich um und ging auf die andere Straßenseite. Da hörte er die Glocken die sechste Nachmittagsstunde ausschlagen. Er musste sich beeilen. Lips sah noch einmal hoch zu den Fenstern der Gaststätte, konnte aber niemanden sehen. Erleichtert lief er
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