Der Goldkocher
Nikolai-Kirche angekommen und waren zu den anderen aufgeschlossen. Wegen der Festlichkeiten hatten sich vor der Kirchtür noch mehr Bettler als sonst zusammengerottet und belagerten dreist den Eingang. Einige dieser elenden Gestalten kannte Lips schon vom Sehen: Abgedankte Soldaten trugen Fetzen von Uniformen und hatten ihre Beinstümpfe bloßgelegt. Sie stützten sich auf Krücken, an denen sie ihren Hund festgebunden hatten, und hielten fordernd eine Holzschale. Dazwischen lungerten ausgezehrte Kinder mit krumm gebogenen Armen und Beinen von der Knochenweiche. Bei einem Mädchen überragte der hohe Buckel sogar den Kopf. Auch die schief ausgewachsene Alte war wieder da, zu der Lips immer wieder schauen musste. Sie kroch wie eine Spinne auf allen vieren ganz dicht über den Erdboden. Sie hatte sich unter die Knie Holzklötze gebunden und stützte sich mit den Händen auf kleine Holzböcke, damit sie nicht in den Straßenkot fassen musste. Neu war ein Mohr, der von den Bettlern umringt wurde und gegen das Läuten der Kirchglocken anfiedelte. Auch die Kirchgänger sahen ihm belustigt zu, wie er auf seiner Geige herumkratzte, dazu mit freier Stimme sang und sich um sein Holzbein drehte, dass einem vom Zusehen schwindelig werden konnte. Er trug eine Strohperücke und darauf einen weit ausladenden Hut mit roten und blauen Federbüscheln, die im Takt mitwippten.
»Maria, Maria, isch muss immer bei disch sein, lala, lala, meine Maria, sonst bin isch doch so allein.« Der Mohr zeigte in seinem roten Mund weiße Eckzähne, die spitz wie Sargnägel gefeilt worden waren. In seinem schwarzen Gesicht klafften regelmäßig gesetzte Narben nach dem Muster einer Kornähre. Er schwang den Fiedelbogen in der Luft und feuerte die Mitsingenden zu mehr Stimme an, dann ging es wieder von vorne los. »Maria, Maria…«
Als die Kirchgänger Pfarrer Porstmann kommen sahen, stießen sie sich an und traten zurück. Auch die Bettler beeilten sich und machten eine Gasse. Der Mohr sang und tanzte und drehte sich weiter, er war wie im Taumel. »Maria, Maria…« Da sah er den Pfarrer und hielt abrupt inne. Pfarrer Porstmann stand einfach nur still da in seinem schwarzen Habit und hielt eine Bibel vor der Brust. Der Mohr versteckte seine Geige hastig hinter dem Rücken, humpelte rasch zur Seite und senkte demütig den Kopf. Es klangen nur noch die Glocken, als Pfarrer Porstmann an ihm vorbeischritt. Erst als er in der Kirche verschwunden war, schaute der Mohr wieder auf und hielt seinen Hut um eine Gabe. Auch die anderen Bettler reckten ihre Hände mit den Schalen. Sie drängten nach vorne, das Klagen und Wimmern setzte ein, wurde stärker und die Gasse immer enger.
Die Predigt ging über Jesaja 55. »Wer sich gegen den Herrn auflehnt, wer seine eigenen Wege gegangen, seinen eigenen Plänen gefolgt ist, der soll umkehren und zum Herrn kommen. Der Herr sagt: Tut, was recht ist, und haltet euch an mein Regiment!«
Pfarrer Porstmann stand auf der Kanzel und klappte sein schwarzes Heft zusammen, aus dem er immer seine Predigten vortrug. Er machte eine lange, bedeutsame Pause, sodass sich die Menschen in den Kirchenbänken schon anstießen.
»Die Grundlage einer christlichen Gemeinschaft ist das Bekenntnis zu Gott.« Pfarrer Porstmann sprach mit klarer, ruhiger Stimme. Die Kirchgänger rechneten wohl mit dem Üblichen und lehnten sich wieder entspannt zurück. »Die Christenheit kann nicht zusammengehalten werden ohne Gottes Regiment. Sein Wille ist die tägliche Losung, so hat es der Herr den Christen aufgegeben. So weit, so gut.«
Lips spürte, dass etwas Ungewöhliches folgen musste.
»Gibt es an den Worten des Herrn irgend etwas zu deuteln? Hat es der Herr an Klarheit fehlen lassen, sodass es ein Missverständnis über seinen Willen zuließe? … Nein, ich glaube nicht. Aber schauen wir uns um! Keine drei Schritte vor dem Gotteshaus wird der Name Marias von gottlosem Pöbel geschändet. Der Satan ist aus seinem Loch gekrochen und lungert vor dem Gottestor herum. Und was passiert?«
Wieder ließ Pfarrer Porstmann eine Pause. Die meisten Kirchgänger nickten.
»Nichts ist passiert, im Gegenteil. Die Stadt ist verwandelt in eine Höhle voller Schlangen und Ottern, und jeden Tag werden es mehr in diesem Sodom und Gomorrha. Das Land ist zum Babel verkommen.«
»Jawohl!«, rief jemand von hinten, und die Köpfe flogen kurz herum.
Pfarrer Porstmann sprach weiter. »Die Narren singen, tanzen und saufen, dass einem die Ohren gellen, und fordern
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