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Der Goldschmied

Der Goldschmied

Titel: Der Goldschmied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roland Mueller
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Er wusste nicht, ob er weinen sollte. Sid, sein einziger Bruder, war tot. Drei englische Pfund hatten ihm das Sterben leichter gemacht.
    ***
    Nur zwei Wochen später bat Agnes um das Aufgebot. Dies durfte sie als reiche Bürgersfrau tun. Niemand im Hause störte sich daran, dass sie Gwyn als ihren zukünftigen Gatten vorstellte. Da war kein Wort des Neides oder gar der Häme. Alle trauten dem jungen Goldschmied und der reifen, schönen Frau zu, Haus und Namen trotz der schweren Zeit nach dem soeben beendeten Krieg zu leiten, ja zu neuer Größe zu führen. Und alle im Hause wussten, wer nur ein böses Wort wagte, dem wies die Lady die Tür, wer aber schwieg und diese Entscheidung guthieß, der konnte unter diesem Dache leben und immer satt werden.
    So ernannte nach Abschluss der Auftragsarbeit der Rat der Zehn von Bath Gwyn zum Goldschmiedemeister der Innung. Damit war Gwyn Carlisle der jüngste Gold- und Zirkelschmied in Britannien, vielleicht sogar der jüngste in der christlichen Welt. Dies konnte niemand mit Sicherheit sagen. Aber wohl waren sich Spötter wie Bewunderer, Kritiker und Neider einig: Gwyns Arbeiten waren von unvergleichlicher Art. Und immer offener sprach man vom Faber Gottes.
    Die Hochzeit war still und ohne Aufsehen vonstattengegangen. Nicht, dass sich Agnes in ihrem Stolz nicht ein großes Fest gewünscht hätte, aber als noch immer trauernde Witwe schickte es sich nicht, mit Pomp zu heiraten, zumal auch der Kirche gegenüber erklärt war, dass es sich um eine Zweckheirat handelte, geboren aus dem Wunsch, das Haus sicher und den Namen und alle damit verbundenen arbeitenden Hände weiter zu führen und zu nähren.
    Agnes verschwieg wohlweislich, dass sie ein Kind unter ihrem Herzen trug. Aber sie war klug genug zu erkennen, dass dieses zarte Ergebnis ihrer vielen Nächte mit Gwyn nicht länger ein Geheimnis bleiben konnte. Die Zeit war gerade so gewählt, dass sie die Geburt des Kindes legal und zu Recht erscheinen ließ. Agnes hatte eine weise Frau aufgetan, der sie blind vertrauen konnte. Diese sollte ihren Leib immer wieder beobachten und notfalls die Geburt hinauszögern. Dies war bei Todesstrafe verboten, denn es galt als blanke Sünde, als schwere Verfehlung und Ketzerei. Aber niemand sollte durch bloße Ahnung wie auch durch simples Zählen der Wochen herausfinden, dass dieses Kind noch zu Lebzeiten des seligen Master Borden gezeugt wurde. Denn jeder wusste, dass der Master lange schon krank war und niemals den Willen geschweige denn die Kraft zum Beiliegen bei seiner Frau gehabt hätte.
    Gwyn belastete sich nicht mit diesem Gedanken. Er war seit ihrer Hochzeitsnacht nicht mehr bei ihr gewesen. Dies, obwohl ihm die Leidenschaft manches Mal zusetzte und ihn gereizt werden ließ. Dann flüchtete er sich in Arbeit. Er hatte altvertraute Gewohnheiten weitergeführt. Das gemeinsame Essen mit den Bediensteten genauso wie all die Pausen und die Darreichungen dabei. Klug genug hatte nicht er den Platz des Borden an der großen Tafel eingenommen, sondern ihn Agnes überlassen, die nun wie eine Fürstin der Tafel und dem Haus vorstand.
    Sie allein war bald unumschränkte Hüterin und Verwalterin des großen Besitzes. Gwyn war gerecht zu seinen Helfern, und nicht einmal erkannten sie in ihm den Meister durch seine Art oder gar sein Auftreten. Aber er war der Meister immer dann, wenn es um die Lösung eines Problems oder um die endgültige Fertigung von kostbaren Arbeiten ging. Sonst pflegte Gwyn keinen näheren Kontakt zu irgendeinem Mitglied des Hauses.
    »Der neue Meister Gwyn trauert um den alten Meister«, sagte jeder.
    Diese Erklärung ließ Gwyn gelten, denn ein wenig stimmte sie sicher, und damit hatte er sich die Achtung der Menschen ringsum bewahren können, denn er hielt das Andenken des Borden hoch und erlaubte niemandem, spöttisch oder gar abfällig über den Verstorbenen zu reden. Niemand, nicht einmal Agnes, seine schöne Frau, sollte von dem Herzeleid erfahren, welches manchmal seine Erinnerung quälte, so dass er aufstand, mitten in der Nacht, und sich in die Werkstatt schlich, um dort zu arbeiten. Dann zeichnete er Entwürfe, skizzierte allerlei Ideen oder stach mit ruhiger Hand prächtige Motive als Gemmen in Bein und Horn, in Korallen und allerlei Steine.
    Die Sterbekammer hatte er leer räumen lassen, das einfache Bett wurde verbrannt. In dem leeren, kahlen Raum ließ Gwyn die beiden prächtigen Leuchter aufstellen, welche eines Tages an beiden Seiten des Hochaltars in der

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