Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Goldschmied

Der Goldschmied

Titel: Der Goldschmied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roland Mueller
Vom Netzwerk:
hübsche Knabe, dessen Anmut die Leute schätzten. Vor ihm, angetan mit Ketten an Händen und Füßen, saß ein verbitterter, gebrochener Junge, kaum 18 Jahre alt, der auf den letzten Gang wartete. Gwyn spürte, wie etwas verrann, dem er nie eine besondere Bedeutung beigemessen hatte: Momente, viele Momente, die aneinandergereiht wie Perlen auf einer Schnur einmal seine Kindheit bedeutet hatten. Eine kurze, aber innige Kindheit.
    Gwyn versuchte, Sid zu beruhigen. Aber dies gelang ihm nicht. Sidneys Flehen und Bitten, seine Verwünschungen und schauerlichen Flüche trafen Gwyn. Der blieb all die Zeit schweigend sitzen, zitternd vor Kälte in all dem Unrat. Und er schwieg. Er ließ die zornigen Verwünschungen seines Bruders gewähren, bis dieser müde und erschöpft zusammensank und einschlief. Gwyn bettete Sids Kopf in seinen Schoß. Der Jüngere weinte im Schlaf vor sich hin, so als wäre er noch ein kleiner Junge. Gwyn war erst jetzt in der Lage, ihm behutsam über den Kopf zu streichen, und er drückte ihn an sich. Er wusste selbst nicht, wie lange er gesessen hatte, seinen Bruder in den Armen haltend, selbst dahindämmernd zwischen leichtem Schlaf und wilden Gedanken, Sid doch noch vor dem Henker zu bewahren.
    Irgendwer rüttelte ihn an der Schulter.
    »Wacht auf, Herr!«
    Gwyn erkannte einen der Posten erst, als ihn dieser mit einer Fackel anleuchtete.
    Behutsam schob Gwyn den tief schlafenden Sid zur Seite.
    »Ihr müsst gehen«, knurrte der Mann.
    Gwyn schlich vorsichtig hinter dem Wachtposten her, nicht ohne vorher Sid noch einmal lange übers Haar gefahren zu sein. Der Wächter wollte den Faber so schnell wie möglich aus dem Turm forthaben.
    Doch Gwyn verlangte den Henker zu sehen. Er wollte wissen, ob Sidneys Name schon auf der Liste der Todesdelinquenten für die nächsten Tage stand. Erst nach langem Bitten führte ihn der Wächter einen steilen Weg hinauf in das Innere des Turms. Vor einer Türe befahl er Gwyn zu warten. Dann klopfte der Wächter an die Türe und verschwand, ohne zu warten. Nach einer Weile rief eine Stimme Gwyn herein. Er trat in die Turmkammer. Hier war es sehr eng. Am Fenster stand ein Mann. Bis auf ein Lendentuch war er völlig nackt. Seine Gestalt war klein, aber auffallend muskulös. Obwohl es in dem Raum kalt war, schien er fast nackt geschlafen zu haben. Gwyn zitterte bei diesem Anblick.
    »Seid gegrüßt, Herr. Was führt Euch her?«, fragte der Mann höflich. Er verzog keine Miene, als er den verschmutzten Faber betrachtete.
    Gwyn musste sich für einen Moment sammeln. »Ich grüße Euch, Gevatter. Bin der Bruder des Carlisle. Ich bitt um …« Gwyn stockte, denn es kam ihm irgendwo verfehlt vor. Er konnte nicht für Sid bitten. Ein Mörder war ein Mörder, auf Mord stand der Tod. Dies war Gesetz.
    Der Mann hatte sich auf einen Schemel gesetzt.  »Meint Ihr den Mörder Sidney Carlisle?«
    Gwyn nickte auf diese Frage stumm. Er fror erneut, als er beobachtete, dass dieser Mann in diesem kühlen Raum keinen Moment zu zittern schien. Der Mann begann zu sprechen.
    »Sidney Carlisle, verurteilt zum Tode wegen Mordes an einem Mann namens Bartholomey Fraser. Er wurde mir, dem Henker, überantwortet. Sein Tod ward beschlossen und verkündet. Was wollt Ihr noch von mir? «
    Gwyn fasste sich und sprach ganz ruhig. »Helft mir, Meister mit der Larve. Ich bitt um Aufschub des Urteils. Nur so weit, wie ich Zeit brauche, um mit Seiner Lordschaft, dem Stadtrichter von London, zu sprechen. Will ihn um Gnade bitten.«
    Der Henker war von Gwyns Bitte nicht erfreut. Dies war verständlich. Jeder Delinquent ernährte ihn und seine Familie. Der Beruf war ein wichtiges Handwerk wie andere auch. Wohl hatten die Männer dieser Zunft keine Innung, aber ihr Tagwerk schien notwendig in einer Zeit wie dieser. Für jeden Mann und jede Frau, die er, der Scharfrichter von London, zu Tode brachte, zahlte ihm der Magistrat vier Schillinge. Bei einer Tortur war natürlich mehr zu verdienen, dauerte sie doch länger. Zudem musste man das Schinden der Opfer beherrschen. Ein ungeübter Tölpel tötete, bevor der Gepeinigte seine Strafe vollständig nach dem Gerichtsbeschluss erhalten hatte.
    Gwyn bettelte und flehte. Doch der Henker ließ sich nicht erweichen. Er blieb höflich und voll einer eigenen Würde, die dem Faber fremd war. Aber er ließ sich nicht umstimmen. Drei Todeskandidaten sollten am Freitag Mittag auf dem Hauptplatz nahe der Themse aufs Rad geflochten werden. Gwyn hatte diese Art der Hinrichtung

Weitere Kostenlose Bücher