Der Gott von Tarot
technischer Begriff. Er umfaßt die Erde und alle drehenden Dinge und somit die menschliche Technologie und Mythologie. Die Präzession der Tagundnachtgleiche …“ Er holte tief Luft. „Es gibt einfach eine Menge rotationsmäßiger Trägheit bei einem sich drehenden Objekt, und wenn man eine äußere Kraft ansetzt, um die Richtung zu ändern, muß man mit dieser Trägheit fertig werden. Wenn man das versteht und die genauen Vektoren kennt …“
Therion lächelte. „Und deine Ignoranz zieht hier den Schlußstrich, weil die Trägheit des Denkens komplexer ist als jede zufällige Untersuchung enthüllen kann. Erkenne dich selber – oder wie ich es lieber ausdrücke: Tu, was du willst.“
„Ja“, stimmte Bruder Paul zu und erfaßte schließlich doch die Bedeutung dieses Satzes. Jemand konnte nicht wirklich tun, was er wollte, wenn er sich nicht zuvor vollständig begriff, um herauszufinden, was er wirklich wollte. Was er wirklich wollte – und nicht, was er in seiner Ignoranz für sein Wollen hielt. Viele Menschen blieben auf der Seite der Ignoranz, unermüdlich nach Reichtum oder Macht strebend, die ihnen lediglich Unglück brachten. Andere strebten nach Glück, definierten es aber lediglich materiell. Andere wiederum versuchten dies wiedergutzumachen, indem sie es ausschließlich nichtmateriell definierten und Schimären suchten. Wie es vielleicht auch Bruder Paul getan hatte. „Mein letztendlicher Wille ist feingesponnener und gewundener als ich selber bewußt erkennen kann. Da diese Animationen zumindest teilweise meinem Unbewußten entspringen, verfalle ich der Präzession, wenn ich durch rein bewußte Gedanken zu lenken suche. So verwickele ich mich und finde mich im rechten Winkel abgetrieben wieder, kämpfe gegen den Drachen der Versuchung und Gott weiß was noch alles!“
Wiederum nickte Therion und sah aus wie ein heruntergekommener Straßenphilosoph. „Ich weiß auch noch etwas: Es war dein eigenes Bewußtsein, gegen das du gekämpft hast.“
„Du weißt es; eigentlich bist du kein schlechter Führer“, meinte Bruder Paul. „Du kennst meinen eigenen Willen besser als ich. Aber wie wenn man ein Pferd zum Wasser führt …“
„Das ist das ganze Gesetz“, stimmte Therion zu.
Sie waren kreuz und quer durch das verlassene, unheimliche Schloß gegangen. Nun betraten sie eine der oberen Kammern – und sahen eine Frau. Sie saß in einem riesigen Kelch, daher wußte er, dies war eine weitere Vision der sieben Kelche, mit der er auf die eine oder andere Weise fertig werden mußte. Er vermutete, der ursprüngliche Kelch, der mit dem Schloß, den er gewählt hatte, war lediglich ein Eingangspunkt gewesen; und ehe er hindurchgelangte, würde er vom Inhalt aller sieben kosten. Hätte er zuerst die Frau gewählt, hätte er wohl auch den Schädel, die Versuchung und das Schloß gefunden, aber vielleicht in anderer Reihenfolge. Mit der Präzession gab es keinen leichten oder direkten Weg zu einem Ziel. Aber nun zu dieser Frau: Sie war ein Wunder an natürlicher Symmetrie und kultivierter Ästhetik, mit Haar wie Sommerweizen …
„Amaranth!“ keuchte Bruder Paul.
„Bitte?“ fragte Therion.
Natürlich kannte dieser Mann nicht den Privatnamen, den Paul der Knochenbrecherdame gegeben hatte. Aber nun war er sicher: Amaranth war in diese Animation gelangt, und hier war sie, die Schauspielerin in einer ganz besonderen Rolle. Die Hauptcharaktere dieser Szene wurden von Lebendigen gespielt, die ihre Texte, wie sie waren, aufsagten oder eventuell anhand von Leitlinien frei sprachen. „Ein privater Gedanke, völlig unwichtig“, meinte Bruder Paul und wußte, daß er log. Da
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