Der Gott von Tarot
Wer regiert denn hier? Gott oder der Mensch?“
„Aber gewiß doch Gott!“ rief Bruder Paul.
„Aber warum hat Gott den Menschen dann nicht vor seiner hochzeitlichen Zeremonie impotent gemacht oder es so geregelt, daß er nur auf bestimmte Stimuli wie Geruch reagieren kann? Tiere haben damit keine Probleme.“
„Aber der Mann ist auch kein Tier“, entgegnete Bruder Paul. „Der Mensch hat ein Bewußtsein. Er kontrolliert seine Triebe.“
„Dann wedelt der Schwanz den Hund. Der Mensch kontrolliert die natürlichen Triebe, die ihm Gott gegeben hat, anstatt sich mit ihnen so auszudrücken, wie es Gott mit ihnen vorhatte.“
„Nein. Das menschliche Bewußtsein stammt von Gott!“
„Und Gott wurde im Bild des Menschen geschaffen.“
Ein aufschlußreicher Hieb! Natürlich war der Mensch im Bild Gottes, aber wenn man so argumentierte, würde Therion einfach darauf hinweisen, daß Gott von daher ein geschlechtliches Wesen sei, aber unverheiratet. Nun war sich Bruder Paul unsicher, ob das Sakrament der Ehe in seine Vorstellung paßte, denn es traf zu, daß Tiere nicht heirateten. Tiere waren absolut natürlich, aber unschuldig.
Doch er mußte immer noch daran glauben, daß eines der Dinge, die den Menschen vom Tier unterschieden, seine Moral, sein höher entwickeltes Bewußtsein war. „Ich will mit dir lieber nicht über die Ehestreiten“, meinte Bruder Paul, „und auch nicht diese junge Frau mißbrauchen. Ich möchte nur die Realität hinter dem Bild sichern.“
„Aber du unterliegst wieder der Präzession“, meinte Therion traurig. „Du bestehst darauf, die privaten Regeln deines Erdenlebens in diesen Rahmen hineinzutragen, und weigerst dich, zuzugeben, daß sie nicht mehr passen. Du denkst, du kannst die Schwierigkeiten überwinden, indem du einfach nach vorn schreitest. Wann wirst du merken, daß du nicht gewinnen kannst, wenn du nicht die Spielregeln befolgst? Du hast erst drei Kelche probiert.“
Versuchung, Sieg und Reichtum. Offensichtlich mußte er alle hinter sich bringen, ehe er die Erhellung erreichte. Keine Abkürzungen. Doch bedeutete die Gegenwart dieser Frau, die eigentlich in dieser Animation gefangen wurde, daß er sie sexuell probieren mußte? Therion schien dafür zu plädieren, was sonderbar war, denn er haßte die Frauen ausdrücklich. Offensichtlich konnte sich Bruder Paul nicht erlauben, Therions Worten allzu genau zu folgen, weil sie vielleicht nicht notwendigerweise dessen Willen widerspiegelten. Diese Frau war vielleicht verführerisch, aber er brauchte nicht verführt zu werden.
„Ich möchte gern mit dir reden“, sagte Bruder Paul zu der Frau. „Was hörst du gern?“
„Ich bete dich an, IAO“, antwortete sie.
„Mein Name ist Bruder Paul vom Heiligen Orden der Vision“, sagte er. Das reichte für eine offizielle Vorstellung innerhalb dieser Animation, falls das überhaupt helfen konnte. „Du … ich glaube, wir kennen uns schon aus dem … äh … echten Leben. Und du hast auch das Tarotspiel der Bruderschaft vom Licht repräsentiert. Wie soll ich dich nun nennen?“
Sie öffnete ihr Kleid. Darunter war sie nackt, schlank und rosaweiß, mit vollen Brüsten. Körperlich stellte sie sein Idealbild von einer Frau dar, was offensichtlich der Grund für die erste Anziehung gewesen war. Er suchte nach dem sublimen Einverständnis von Gott, aber sein Fleisch hatte anderes im Sinn.
„Ich bete dich an, IAO“, wiederholte sie.
Bruder Paul weigerte sich mitzumachen. „Ich dachte, im echten Leben würdest du einen schlangenfüßigen Gott namens Abra …“ An den gesamten Namen konnte er sich nicht mehr erinnern.
„Sie redet von IAO – oder auch Abraxas, wörtlich genommen“, erklärte Therion. „Er hat
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