Der Gott von Tarot
dies hier, wenn du willst“, sagte sie und bot ihm eine kleine Schachtel an.
Bruder Paul nahm sie. Er mußte fest zugreifen, denn ihre Hand zitterte. Wenn sie auch ihre Fähigkeiten zur ‚Mutter’ gemacht hatten, war sie doch manchmal wie ein kleines Mädchen, so unsicher, daß es schon fast peinlich wirkte. Es war ihm schon früher in den Sinn gekommen, daß vielleicht eine ältere Person besser für dieses Amt geeignet wäre. Aber es gab viele Stationen, und das Alter war meistens nicht ausschlaggebend bei der Besetzung.
Er blickte in die Schachtel. Sie enthielt ein Tarot-Kartenspiel, die symbolische Weisheit aller Zeitalter.
Nun setzte sie sich, als habe man sie von einer Last befreit. „Bitte, misch sie.“
Bruder Paul nahm die Karten heraus und breitete einige der oberen Karten aus: Sie lagen der Reihenfolge nach, die mit Arkan Null oder dem Narren begann, und weiter ging es mit dem Weisen, der Hohepriesterin (auch die ‚Päpstin’ genannt), der Herrscherin, dem Herrscher und so weiter alle zweiundzwanzig Trümpfe oder Großen Arkanen hindurch, und dann folgten die sechsundfünfzig anderen Karten oder Kleineren Arkanen. Da waren die Kombinationen von Stab, Kelch, Schwert und Münze entsprechend den normalen Farben Kreuz, Herz, Pik und Karo oder den Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft. Eine jede Bildkarte war wunderschön gezeichnet und koloriert. Er hatte wie alle Brüder und Schwestern des Ordens den Tarot-Symbolismus studiert, respektierte diese Kunst und war mit den Karten wohlvertraut. Eine der Übungen des Ordens bestand darin, schwarz-weiße Karten entsprechend der Vorschrift bunt zu bemalen. Das war kein Kinderspiel; es war überraschend, wieviel Offenbarung in diesem Akt verborgen lag. Farben wie auch Zahlen und Bilder dienten einem grundsätzlichen symbolischen Zweck.
Während er darüber nachdachte, mischten seine Finger die Karten mit einer solchen Geschicklichkeit, die kaum zu seiner asketischen Berufung paßte. Er war nicht immer ein Bruder gewesen, aber wie der Apostel Paulus, dem er seinen Ordensnamen verdankte, hatte er sein früheres, wildes Leben hinter sich gelassen. Nur als notwendige Reueübung dachte er zuweilen über seine vergangenen Fehler nach. Eines Tages – wenn er es wert sein würde – würde er diese Büchse der Pandora auf immer schließen.
Er war nun mit dem Mischen fertig und gab die Karten der Oberin zurück.
„Die Frage, die du im Kopf hattest – hing sie mit meiner Sorge um dich zusammen?“ fragte die Priesterin und hielt die Karten in den schmalen Fingern.
Zustimmend beugte Paul den Kopf. Es war eine kleine Notlüge, da sich seine Gedanken verbotenerweise nur mit den Karten beschäftigt hatten. Natürlich hatte er sich gefragt, warum er hier war; man hatte ihn nicht wegen eines kleinen Plauderstündchens mitten aus seiner Klasse gerufen. Aber eine Notlüge war immer noch eine Lüge!
„Laß uns die Karten legen“, sagte sie.
Wie schnell er für die Lüge bezahlen mußte. Ihre Absicht war offenkundig gewesen, als sie ihm die Karten gereicht hatte; wie hatte es ihm nur entgehen können. „Ich fürchte, ich …“
„Nein, ich meine es ernst. Tarot ist ein legitimer Weg, ein Problem zu lösen – besonders in diesem Fall. Laß dich davon leiten.“
Sie deckte die erste Karte auf, wobei sie darauf achtete, sie seitlich abzuheben und nicht Kante an Kante, um sie nicht umzudrehen. Bruder Paul verbarg seine Aufregung. Er hatte einen dummen Fehler begangen, der ihnen beiden peinlich werden konnte. Er versuchte, an einen vernünftigen Grund zu denken, diese Sitzung abzubrechen, aber alles, was ihm einfiel, war eine blasphemische Anekdote über die Päpstin Johanna, die
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