Der Gott von Tarot
niemanden aus; wir stellen lediglich das Material zur Verfügung.“
Man hörte ein Kichern. Bruder Paul bemerkte es mit Unbehagen, denn er hatte keine Punkte für sich verbuchen, sondern lediglich die Stellung des Ordens verdeutlichen wollen. Irgendwie war es ihm mißlungen, denn nun war seine Zuhörerschaft eher durch seine offensichtliche Klugheit als durch seine Philosophie beeindruckt.
Verärgert schob sich der massige Junge nach vorn. „Ich glaube, du bist ein Schwindler. Du willst doch gar nichts für dich selbst entscheiden. Du willst einfach den Regeln des Ordens gehorchen. Du bist wie ein Automat.“
„Vielleicht stimmt das“, stimmte Bruder Paul ihm zu, auf der Suche nach einem Weg, den Zorn des Jungen aufzuweichen, ohne das Ziel der Stunde aus den Augen zu verlieren. „Du beziehst dich auf das Konzept von der Vorherbestimmung, der Prädestination, und in diesem Sinne sind wir alle Automaten mit der Illusion der eigenständigen Entscheidung. Wenn jeder Augenblick durch bestehende Kräfte und Situationen exakt vorherbestimmt ist, kann man dann von einem freien Willen sprechen? Aber ich ziehe es vor …“
„Du bist ein verdammter Schleimscheißer!“ rief der Junge aus. „Du stimmst einfach allem zu, was ich sage! Was machst du denn, wenn ich dich stoße, so?“ Und er trat heftig mit vorgeschobenen Händen auf ihn zu.
Bruder Paul befand sich aber nicht mehr an dieser Stelle. Rasch war er zur Seite getreten und hatte nur ein ausgestrecktes Bein dort stehenlassen. Kopfüber stolperte der Junge über den Fuß. Bruder Paul fing ihn auf und ließ ihn auf den Boden gleiten, wobei er einen Arm des Jungen umklammert hielt. „Verrate niemals im voraus deine Absicht“, sagte er milde.
Der Junge wollte aufstehen. Er blickte mörderisch um sich. Er dachte, es sei ein unglücklicher Sturz gewesen. Aber Bruder Paul drückte nur ein wenig auf die von ihm gehaltene Hand, berührte sie lediglich mit einem Finger, und der Junge brach unter dem plötzlichen Schmerz zusammen. Er war hilflos, wenn es auch den anderen so erschien, als spiele er. Ein Einfingergriff verursachte Schmerzen? Lächerlich!
„Ein bißchen formales Training kann von Vorteil sein“, erklärte Bruder Paul den anderen. „Dies ist eine Form des Aikido, einer japanischen Kampfart. Wie man sieht, ist mein Glaube daran stärker als der Unglaube dieses jungen Mannes. Aber wenn er diese Form ausüben würde, könnte er die Situation schnell ins Gegenteil verkehren, denn er ist sehr stark.“ Unterschätze niemals die Wirkung eines unerwarteten Kompliments! „Die Idee ist, wie ich vorhin schon bemerkte, ohne die Form sinnlos.“
Nun ließ er den Jungen los, um festzustellen, ob er die Situation wieder im Griff hatte. Rasch stand der Bursche wieder auf den Beinen. Sein Gesicht war gerötet, doch er griff ihn nicht noch einmal an. „Wissenschaftliche Anwendung von allem kann sehr produktiv sein“, fuhr Bruder Paul fort, „ob es nun Aikido ist oder ein Gebet.“ Er blickte den Jungen an. „Und nun versuch es bei mir.“
„Was?“ Der Junge war vollständig überrascht – zum zweiten Mal.
„So“, sagte Bruder Paul. „Ich komme so auf dich zu …“ Er trat kämpferisch einen Schritt nach vorn und hob die Faust. „Aber du mußt dich von mir fortdrehen und den linken Fuß im Taiotoshi- Körperfall des Judo drehen …“ Er zeigte es dem Jungen, bis der Fuß richtig stand. „Dann greif mein Hemd und stell den rechten Fuß so vor mich, direkt vor das Schienbein. Siehst du, wie dein Körper in die richtige Position fällt? Darum nennt man diese Position den Körperfall. Und weil ich nach vorn falle, stolpert mein Fuß über dein Bein, während du an meinem Hemd zerrst …“ Es war kein Hemd, sondern das lose Vorderteil seiner Kutte, doch der
Weitere Kostenlose Bücher