Der Gott von Tarot
Moment lang fühlte sich Paul in Versuchung. Aber er merkte, daß dieser Mann ebensogut ein Kartellagent wie ein Drogenknacker sein konnte. Vielleicht überprüfte ihn das Kartell, um sicherzugehen, daß er den Mund hielt. Und er mußte den Mund halten, sonst würde er in Kürze tot sein. „Ich weiß nichts davon“, sagte er. „Lassen Sie mich in Ruhe.“
„Sie können sich nicht mehr selbst ernähren“, beharrte der Bundes(Kartell?)-Agent. „Sie sind am Ende. Wir können Ihnen helfen, wenn Sie uns helfen. Jetzt, solange Sie noch können.“
Paul tauchte in der Menge unter und ließ den Mann stehen. Er schob sich durch die Menschen, bis er den Mann abgeschüttelt hatte. Bald befand er sich auf einer anderen Straße. Ein riesiges Novaneon-Schild leuchtete auf, weil sich der Mechanismus bei seinem Herannahen auslöste: CHRIST = SCHULD.
Paul lächelte. War das ungewollte Ironie? Bei den religiösen Kulten wußte man das nie. Er ging darunter hinweg und sah sich um. Von dieser Seite aus las er: SEX = SÜNDE. Kein Fehler. Für viele Religionsangehörige bedeutete jede Art von Vergnügen etwas Unmoralisches, und niemand konnte heilig sein, wenn er sich nicht auch schuldig fühlte. Selbst im Vergnügen des wahren Glaubens mußte er sich schuldig fühlen für dieses freudige Gefühl.
Doch bei einigen Leuten nahm es eine attraktiv bescheidene Qualität an, und es konnte einem eine gewisse Verlockung, die Sicherheit eines Zugehörigkeitsgefühls geben. Wie hieß noch der Verein, zu dem Schwester Beth gehört hatte? Heiliger Orden der Vision. Sein Erinnerungsvermögen ließ ihn nicht im Stich. Vielleicht war das auch nur ein repressiver Kult als Reaktion auf eine repressive Gesellschaft – aber sie war ein süßes Mädchen gewesen. Warum hatte sie sterben müssen?
Paul blieb stehen, weil er in der Brust eine Art Explosion spürte. Hitze wallte auf, breitete sich im ganzen Brustkorb aus, eine brennende Flut, die langsam zurückging. Plötzlich begriff er, was die Allgemeinheit ein gebrochenes Herz nannte. Es war kein körperlicher Schmerz; das Gefühl war sogar sonderbar angenehm. Aber etwas, was für ihn unterschwellig lebenswichtig gewesen war, war verschwunden. An seiner Stelle gab es – Schuld.
Einen Moment lang war er verwirrt, und dann war es Spätnachmittag, und er war allein. Er betrat ein heruntergekommenes Gebäude. Es trug keine Bezeichnung, doch jeder, der hier zu tun hatte, kannte es. Es hieß ‚Zum Dutzend’ – Auffangbecken der Ausgestoßenen. Genauer gesagt: Es war die ausdrücklich nichtweiße Enklave aus einer Zeit, als es qua Gesetz keine Diskriminierung aufgrund von Rasse oder Abstammung gegeben hatte. Daher hatte dieses Institut rechtmäßig keine Grundlage. Aber die hatte das Mnem-Kartell auch nicht. Rechtmäßigkeit leitete sich aus Sachverhalten ab, und kein Weißer war so dumm, seinen Fuß in das ‚Dutzend’ zu setzen.
Pauls Auftauchen verursachte einen kleinen Aufruhr. Sofort versperrten ihm drei kräftige Männer den Weg. Einer hatte die rötlichblaue Hautfarbe eines fast vollblütigen Indianers; der andere war Orientale und der dritte Neger. „Hast du dich vielleicht verirrt, Schneeball?“ fragte der Schwarze sanft.
Ein Schneeball war ein hundertprozentig Weißer, und der würde in dieser farbigen Hölle nicht lange überleben. Paul ließ sich in Bückstellung fallen, die niemand mißverstehen konnte. „Nein.“ Er hielt sich zurück, eine Beleidigung zu entgegnen: „Pechkugel.“
„Das ist meiner“, sagte der Gelbe. Die beiden anderen traten zurück. Der Orientale stellte sich vor Paul auf, der wieder eine natürliche Haltung einnahm.
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