Der Gott von Tarot
haben.“
Bruder Paul nickte. Sie standen also doch nicht so sehr über diesen Phänomenen! Wenn sie es überhaupt jemals versucht hatten, einen Menschen herbeizurufen, dann hatten sie noch nicht viel damit experimentiert. Er wußte, wo er beginnen mußte. „Aber wenn ich diese Phänomene ordentlich untersuchen soll, muß man mir gestatten, alles zu beleben, was in meiner Macht steht – und ich würde es vorziehen, hier damit zu beginnen, unter Ihren erfahrenen Augen.“
Die anderen tauschten mißbilligende Blicke aus. Sie mochten zu verschiedenen Religionsgemeinschaften gehören, doch hier stellten sie eine gewisse Einheit dar. „Ihre Logik siegt“, sagte Pfarrer Siltz schwerfällig. „Wenn Sie es tun müssen, dann besser hier. Wir werden dabeisein.“
Bruder Paul suchte in dem Kartenspiel herum. Hier war der Name des Narren Le Mal, und er war als Hofnarr gekleidet. Gänzlich abweichend von Waites Interpretation, nach der der Narr ein edler, unschuldiger Jüngling war, der im Begriff ist, einen Felsen herabzutreten; symbolisch gesehen das ungeheure Potential des Menschen für Streben und Irrtum. Andere Versionen kannten einen hinterhältigen kleinen Hund, der den Hosenboden des Narren zerfetzte, so daß man dessen nacktes Hinterteil sah: der Gipfel der Lächerlichkeit. Eine Variante hatte er gesehen, in der der Narr sich zu entleeren schien. Wahrscheinlich war es doch das beste, diese Karte zu übergehen; ein Versuch könnte in der Tat eine Narretei bedeuten.
Die Arkane Eins war der Magier oder Gaukler, der seine billigen Tricks unter einem abgedeckten Tisch vollführte. In der Ordensstation war Bruder Paul manchmal geneckt worden – sehr sanft natürlich, denn kein Bruder würde einen anderen bewußt verletzen – wegen seiner vermuteten Neigung zu den Karten. Sie kannten seine Vergangenheit als Kartenkönig und hatten seine Geschicklichkeit mit allen mechanischen Dingen sehr wohl beobachtet. Bruder Paul nahm derartige Anspielungen gutmütig hin, dankbar für die Kameradschaft, die er nach seinem vorherigen Leben im Orden gefunden hatte. Er dachte von sich selbst gern als von jemand, der auf der Suche nach den letztendlichen Begründungen für das Leben war, wie es durch die Objekte auf dem Tisch aus den Tarotkarten symbolisiert war: Stab, Kelch, Schwert und Münze, die Feuer, Wasser, Luft und Erde, beziehungsweise den allgegenwärtigen Symbolismus der Formen bedeuteten. Auch in dieser Version hier schwebte die kosmische Schleifenlinie oder liegende Acht, das Symbol der Unendlichkeit, wie ein Heiligenschein über dem Kopf des Magier, und um seine Taille schlang sich eine sich in den eigenen Schwanz beißende Schlange: der Wurm Ouroborus, Symbol für die Ewigkeit. Alle Dinge in Raum und Zeit – das war die Großartigkeit des Konzeptes, nach dem dieser moderne Magier strebte. Aber hier, in diesem Kartenspiel, war er nur ein heruntergekommener Trickkünstler. Nein, auch die ließ er aus.
Arkane Zwei, hier Juno benannt. In der römischen Mythologie war Juno die Frau Jupiters und Königin der Götter, Gegenstück der griechischen Hera. Sie galt als die Beschützerin der Ehe und der Frauen. Ihr Vogel war der Pfau, der auch in diesem Spiel vorhanden war. Hier war sie eine hübsche Frau in hellrotem Kleid, mit vollem Busen und nackten Beinen. Aber eine derartige Amazonengestalt würde vielleicht von der männlich dominierten Gesellschaft nicht gern gesehen. Bedauernd legte er sie fort; selbst in ihrem bekannteren Gewände als Hohepriesterin (und berüchtigte Päpstin) war sie wohl eine fragwürdige Wahl.
Arkane Drei, die Herrscherin – eine reifere
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