Der Gott von Tarot
Antwort korrekt gewesen sei. Doch Bruder Paul suchte nicht nach einer solchen Antwort. Zuerst mußte er die Art der Gestalt selber ergründen. Daher stellte er eine herausfordernde, aber nicht wirklich kritische Frage, eine Testfrage: „Was ist der Sinn der Religion?“
„Der Sinn der Religion liegt darin, die Seelen der Menschen zu befrieden und sie gesellschaftlich und politisch folgsam zu machen“, antwortete der Hierophant.
Das überraschte Bruder Paul. Es spiegelte mit Sicherheit nicht seine eigene Meinung über Religion wider! Bedeutete das, daß die Gestalt einen eigenen Verstand besaß? „Aber was ist mit dem Fortschritt des menschlichen Geistes?“ fragte er. „Was geschieht mit ihm, wenn er diese Welt verläßt?“
„Geist? Andere Welt? Aberglaube, der von den politischen Mächten gepflegt wird“, antwortete der Hierophant. „Niemand bei Verstand würde sich mit der Korruptheit und Grausamkeit derjenigen abfinden, die an der Macht sind, wenn er glauben würde, dies sei die einzige Welt. Daher versprechen sie ihm für später ein mythisches Leben, wo die Nachteile dieses Lebens kompensiert werden. Nur ein Narr würde das glauben, was aber zeigt, wie viele Narren es gibt. Barnum hatte nicht recht: Es wird nicht jede Minute ein Narr geboren. Jede Sekunde stimmt eher.“
„Herr, habe Gnade mit einem Narren“, murmelte Bruder Paul.
„Ich hatte lediglich gedacht, Religion sei mehr als nur dies“, erklärte Bruder Paul. „Ein Mensch braucht einigen Trost angesichts des unvermeidlichen Todes des Körpers.“
„Ohne Tod gäbe es keine Religion“, versicherte der Hohepriester und wedelte nachdrücklich mit dem Zepter. Es schlug fast auf dem kahlen Schädel eines Mönches auf. Der Hierophant runzelte verärgert die Stirn, und beide Mönche verschwanden. „Die Religion begann mit den Naturgeistern – dem Waldbrand, Fluten, Donner, Erdbeben und so weiter. Primitive Stämme versuchten sich in der Magie, um die Dämonen der Umwelt zu befrieden, und vollzogen für die Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde Blutopfer, in der Hoffnung, diese wilden Kräfte zu wohltätigerem Verhalten umstimmen zu können. Lies das Buch vom Tarot, und du findest diesen Spuk immer noch umherwandern in Gestalt der vier Farben. Formelle Religionen sind lediglich eine Verstärkung dieser Vorstellungen.“
Bruder Pauls Erstaunen machte Zorn Platz. „Das ist eine idiotische Beurteilung der Religion“, sagte er. „Ihr könnt doch nicht etwa …“
„Man hat dich einer Gehirnwäsche unterzogen mit intellektuellem Nonsens, um dich konform zu machen“, sagte der Papst mit väterlichem Bedauern. „Man hat deine gesamte Existenz in religiöse Progaganda gebettet. In dein Gedächtnis ist das Bild Cäsars eingegraben und dazu die Botschaft: ‚Wir vertrauen auf Gott’. Dein Bestreben nach Einigkeit unter deiner Totemflagge besagt: ‚Eine unteilbare Nation unter Gott’. Warum sagst du nicht ‚Im Vertrauen auf Satan’, denn der Satan ist viel konstanter als Gott. Oder ‚Eine Nation, die einem albernen, okkulten Spuk aufsitzt, der unsichtbar bleibt außer im Machthunger …’“
„Stop!“ rief Bruder Paul. „Dieses Sakrileg kann ich nicht anhören!“
Wissend nickte der Hohepriester. „Du gibst also zu, das Opfer einer weltweiten religiösen Konspiration zu sein. Deine Objektivität existiert gerade so lange, wie die Wahrheit nicht in Konflikt mit den Dogmen deines Kults gerät.“
Bruder Paul war wütend, aber nicht so wütend, daß er nicht den wahren Kern in diesen Blasphemien erkennen konnte. Diese Kartengestalt lockte ihn, stieß ihn herum, zwang ihn, so zu reagieren, wie sie es wollte.
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