Der Gott von Tarot
die er auch nur einen Blick warf, zum Leben erweckt werden konnte, sogar ohne seinen bewußten Willen.
Nun, Zeit für eine Große Arkane: Er wollte sehen, ob er das Tarotspiel selbst auf seine Fragen antworten lassen konnte. Wiederum zog Bruder Paul die Karten hervor, sortierte die Großen Arkanen heraus und wählte den Hohepriester. Das war die Arkane Fünf seines Spiels. Der große Lehrer und Religionsvater, in anderen Karten als Hierophant oder Papst bekannt, Gegenstück zur Hohepriesterin. Es hing alles von der Religion und dem Ziel der Person ab, der die jeweilige Variante entwickelt hatte. Der Titel der Karte spielte ohnehin keine Rolle; einige Spiele kannten gar keine Titel. Die Bilder trugen die Symbole. Sicher würde diese würdige Gestalt in der Arkane Fünf die Bedeutung der Animationen wissen, wenn es überhaupt eine gab.
Bruder Paul konzentrierte sich, und die Gestalt materialisierte sich. Sie saß auf einem Thron, beide Hände erhoben, die rechte Handfläche nach oben gehalten, zwei Finger zum Segen gestreckt. Die linke Hand hielt ein Zepter, auf dem ein dreifaches Kreuz stand. Der Mann trug eine weite rote Robe und einen goldenen Kopfputz. Vor ihm knieten zwei Mönche mit Tonsur; hinter ihm erhoben sich zwei verzierte Säulen.
Bruder Paul merkte, daß er zitterte. Er hatte die Leitfigur der römisch-katholischen Kirche herbeigezaubert, was für einen Namen ihm ein protestantisches Kartenspiel auch immer zuerkannt hatte. Hatte er das Recht dazu?
Ja, fand er. Das war nicht der richtige Papst, sondern ein Repräsentant von einer Karte. Wahrscheinlich ein hirnloses Ding, eine bloße Statue. Aber diese Seelenlosigkeit mußte er herausfinden, damit Bruder Paul sichergehen konnte, daß sich hinter den Erscheinungen keine Intelligenz verbarg.
„Eminenz“, murmelte er und beugte den Kopf mit dem gleichen Respekt, den er Würdenträgern anderer Glaubensrichtungen erwies. Man brauchte nicht die Philosophie einer Person zu teilen, um deren Eintreten dafür zu respektieren. „Darf ich um eine Audienz bitten?“
Der Kopf der Figur neigte sich. Der linke Arm senkte sich. Der Blick fiel auf Bruder Paul. Die Lippen bewegten sich. „Du darfst“, sagte der Hohepriester.
Er hatte gesprochen !
Nun, dieses Aufzeichner-Armband würde später nachweisen, ob dies nun zutraf oder nicht. Die Stimmenanalyse würde zeigen, daß Bruder Paul mit sich selber sprach. Das spielte keine Rolle; es war sein Auftrag, diese Beobachtungen zu unternehmen und alle Erscheinungen herbeizurufen, die er herbeirufen konnte, damit die Aufzeichnungen vollständig würden. Er konnte es sich nicht leisten, zurückhaltend zu sein, weil er vielleicht persönlich nicht mochte, was sich manifestierte. Es tat ihm bereits leid, den Hierophanten belebt zu haben; nun mußte er mit der Erscheinung sprechen, und das schien ihn intellektuell gesehen zu kompromittieren, indem er ein Wesen legitimierte, das er eigentlich für illegitim hielt. Nun, weiter.
„Ich bin auf der Suche nach Informationen“, sagte er kläglich.
Der heilige Kopf neigte sich. „Frage, und sie werden dir gegeben.“
Bruder Paul dachte daran, ob er fragen solle, ob Gott hinter der Erscheinung stehe, und wenn dies der Fall sei, wie es um seine wahre Natur bestellt sei. Aber da dachte er an ein Ereignis seiner Studienzeit, als ein Freund ein dreijähriges Kind eines anderen Studenten mit der Frage geneckt hatte: „Kleines Mädchen, was ist das Wesen der letztendlichen Realität?“ Das Kind hatte prompt geantwortet: „Lollipops.“ Tagelang war diese Antwort Campusgespräch gewesen; die allgemeine Meinung hielt dafür, daß diese
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