Der Gott von Tarot
Die Erscheinung war unter Kontrolle, er selber aber nicht. Er mußte seine Objektivität wieder erlangen und eher beobachten als bekehren, andernfalls stand seine Mission unter einem schlechten Stern.
Bruder Paul beruhigte sich mit großer Willensanstrengung, die aber geringer wurde, als er merkte, was geschah. „Ich bitte um Entschuldigung, Hierophant“, sagte er, augenscheinlich ruhig. „Vielleicht hat man mich falsch informiert. Ich möchte Euch anhören.“ Immerhin hatte jeder das Recht der Meinungsfreiheit, selbst wenn man nur ein Papphirn hatte.
Die Gestalt lächelte. „Ausgezeichnet. Frage alles, was du willst.“
Das war schwieriger als vorher. Anstelle einer Frage beschloß Bruder Paul eine Meinung abzugeben. Vielleicht konnte er die Initiative ergreifen und statt seiner die Erscheinung reagieren lassen; das wäre bestimmt produktiver. Offensichtlich saß irgendein Geist hinter der Fassade; die Frage war nur, was für ein Geist?
„Ihr sagt, ich kann nur die Wahrheit aushalten, die nicht in Konflikt mit den Dogmen meiner persönlichen Religion gerät“, begann er vorsichtig. „Ich bin sicher, das trifft zu. Aber meine Religion erachte ich als Wahrheit, und ich tue mein Bestes, in jeder Situation die Wahrheit zu erkennen. Ich unterstütze die Meinungsfreiheit einer jeden Person, auch derer, die mit mir nicht einer Meinung sind, und ich achte das Recht eines jeden Menschen auf Leben, Freiheit und Glück. Das ist ein Teil dessen, was ich meine, wenn ich die Fahne meines Landes grüße und in alltäglichen Dingen den Namen Gottes anrufe.“
„Nur wenige Nationen unterstützen dies“, antwortete der Hierophant. „Sicher nicht die monolithischen Kirchen. Ein Häretiker hat weder das Recht auf Leben noch auf Freiheit, und niemand hat einen Glücksanspruch.“
„Aber Glück ist das natürliche Ziel der Menschen“, wandte Bruder Paul ein, innerlich aufgeregt. Nun hatte er die Gestalt am Wickel. Für ihn war das Glück nur ein Teil der natürlichen Ziele des Menschen. Er selber befand sich nicht in selbstsüchtiger Suche nach dem Glück. Das hatte er vielleicht einmal getan, aber er war reifer geworden. Das hoffte er zumindest.
„Die Errettung seiner unsterblichen Seele ist der richtige Lebenssinn für den Menschen“, sagte der Hierophant fest. „Glück hat damit nichts zu tun.“
„Aber Ihr habt behauptet, die unsterbliche Seele des Menschen sei ein Aberglaube, eine bloße Erfindung, die die politischen Mächte …“
„Genau“, sagte die Gestalt lächelnd.
„Aber dann ist alles umsonst. Alle Taten des Menschen, sein Leid, seine Freude.“
„Du bist ein guter Schüler.“
Bruder Paul schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu klären. Dieses Ding würde ihn nicht einfangen! „Die Bestimmung des Menschen ist also …“
„Der Mensch soll der Freude entsagen zugunsten ewiger Demütigung.“
„Aber alle Grundinstinkte des Menschen sind an Vergnügen gebunden. Die Befriedigung, wenn der Hunger verschwindet, die Tröstung der Ruhe nach schwerer Arbeit, die ungeheure Freude der geschlechtlichen Vereinigung …“
„Das sind Versuchungen durch den Satan! Der einzig mögliche Weg ist der asketische. Der Weg des geringsten Vergnügens. Ein Mann sollte sich von Wasser und Brot ernähren, auf einer harten Pritsche schlafen und mit dem niederen Geschlecht nur insoweit Kontakt halten, als es der Aufrechterhaltung der Spezies dient.“
„Ach, kommt!“ protestierte Bruder Paul lachend. „Man hat den Sexualtrieb als bifunktionalen Trieb erkannt. Er sorgt nicht allein für die Reproduktion, sondern vergrößert auch das Vergnügen an einer fortgesetzten interpersonellen Partnerschaft, die die
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