Der Gott von Tarot
Augen, die vor einem inselübersäten See hockte. In den Händen hielt sie zwei lange Schwerter. Die Arme waren vor der Brust gekreuzt, so daß die Schwertspitzen die Form eines V bildeten. Er hatte die Karte verkehrt herum, das unterste zuoberst, aufgedeckt.
Ehe er versuchte, sie zu beleben, ging er weitere fünfzig Schritte nach Norden, in der Hoffnung, die Wirkung würde dort stärker und dauerhafter werden. Er wollte nicht noch einmal ein schwankendes, verzerrtes Bild, das seine Sicherheit erschütterte. Er konzentrierte sich auf die Karte, so wie sie war, und blickte auf.
Da saß auch die Dame mit den verbundenen Augen, und jedes Detail stimmte. Da waren der See, die Inseln und der Halbmond zwischen dem Schwerter-V. Und die gesamte Szene war umgedreht wie die Karte. Der See befand sich oben, der Mond unten; es war, als würde sie durch die Schwerter gehalten.
Eine Umkehrung konnte beim Tarot große Bedeutung haben. Bei der Weissagung – das war der höfliche Ausdruck für die Wahrsagerei – bedeutete es, die Botschaft der Karte war entweder in der Wirkung abgeschwächt oder verändert. Bruder Paul wußte, daß nach dem Autor dieser Karten, Arthur Waite, die umgedrehte Schwert-Zwei ein Omen für Schwindel, Falschheit oder Illoyalität bedeutete. Ein schlechtes Zeichen?
Nein, hier handelte es sich nicht um Weissagerei! Es war lediglich ein Experiment, der Test einer bestimmten Wirkung. Außerdem glaubte er nicht an Vorzeichen. Für seine Zwecke hatte die Umkehrung keine Bedeutung, weil so etwas natürlich nicht geschehen würde. Er hatte es herbeigerufen! Nach der Verifikation ließ er das Bild wieder schwinden.
Bruder Paul sortierte und mischte die vier Dreien und deckte eine auf. Kelch, umgedreht. Er konzentrierte sich, und da erschienen die drei Mädchen tanzend in einem Garten mit hocherhobenen Kelchen, die sie einander anboten. Umgedreht.
Wenn er an Weissagung glaubte, geriete er nun in gehörige Zweifel. Die Kelch-Drei deutete den glücklichen Ausgang einer Sache an; umgedreht würde sie bedeuten …
Stirnrunzelnd legte er die Karte fort und sah, wie die Vision verschwand. Er nahm die Vieren. Beim Mischen ging er noch weiter nach Norden. Der Animationseffekt schien trotz der Umkehrungen stärker zu werden; dies konnte an dem kräftiger werdenden Feld liegen oder an dem, was den Effekt hervorrief – was immer es sein mochte. Vielleicht auch an seiner zunehmenden Erfahrung. Dieses Mal würde er es wirklich auf die Probe stellen, indem er etwas Berührbares herbeizaubern würde.
Er drehte die Pentagramm-Vier um. Das war Waites Name für die Scheiben oder Münzen. Doch auch diese Karte lag verkehrt herum. Und das Bild formte sich vor seinen Augen, ohne daß er es recht wollte. Umgekehrt. Es war ein junger Mann mit einer Goldscheibe auf dem Kopf, und auf der Scheibe war ein fünfzackiger Stern eingeritzt; eine weitere derartige Scheibe hielt er vor sich, und zwei weitere lagen unter seinen Füßen. Über seinen Füßen in dieser Position.
„Verdammt!“ fluchte Bruder Paul in höchst unheiliger Weise. Er war der Umkehrungen überdrüssig, ebenso ihrer theoretischen Warnungen vor Problemen, an die er nicht glaubte. Er ging weiter und machte eine Armbewegung, als wolle er die Vision beiseite fegen. Fast sicher, daß er auf nichts stoßen würde, fixierte sein Blick die schöne Stadt in der Ferne, die wie in einem Spiegelbild ebenfalls auf dem Kopf stand.
Die Hand schlug gegen die vorderste Scheibe. Sie flog weit fort und erinnerte ihn kurz an Tennysons Lady of Shalott, deren Spindel weit geflogen war und den Spiegel zersprungen hatte. Lebte er, ebenso wie die Lady, in der Phantasie? Die Scheibe tanzte und
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