Der Gott von Tarot
Schwestern leiteten sie abwechselnd, und diese Woche war Bruder Paul an der Reihe.
„Tut mir leid, ich komme zu spät“, sagte Bruder Paul und gab jedem die Hand. „Ich wurde aufgehalten, wenn man so will, durch eine Übereinanderlagerung der Elemente.“
Eines der Mädchen horchte auf. Es war eine schlanke Nymphe mit hellen Augen und einem hübschen, von blonden Zöpfen gerahmten Elfengesicht. Sie schien etwa fünfzehn Jahre alt zu sein, wenn auch die mangelhafte Ernährung das Wachstum der Jugendlichen in dieser Zeit verzögerte und die Reifung aufhielt. Einen Monat lang die richtige Nahrung würde bei ihr Wunder wirken, körperlich und vielleicht auch geistig. Es war schon schwer, mit leerem Magen ein gläubiges Geschöpf zu sein. Zumindest für diejenigen, die an diese Art von Disziplin nicht gewöhnt waren. „Damit wollen Sie doch etwas anderes sagen, nicht wahr, Sir?“
„Sag Bruder zu mir“, sagte Paul. „Ich bin Bruder Paul vom Heiligen Orden der Vision. Ja, mir ging dabei eine Anekdote durch den Kopf. Danke für diese Frage.“ Es war immer gut, auf der persönlichen Ebene zu beginnen; zu frühes theologisches Theoretisieren konnte die jungen Köpfe verwirren. Er wollte sie nicht bekehren, sondern ihnen Erklärungen geben. Aber auch das mußte in angemessener Form geschehen. Menschen waren komplexer als Windmühlen, aber es gab auch Parallelen zwischen ihnen.
„Angeber“, murmelte einer der Jungen. Es war ein ungebärdiger Bursche mit breiten Schultern, aber von mißmutigem Äußeren. Offensichtlich hatte man ihn hierhergeschickt, weil ihn niemand anders mehr bändigen konnte. Die Ordensstation war keine Besserungsschule, aber vielleicht würde er hier die Erleuchtung finden. Die Mechanismen Gottes waren niemals vorhersehbar.
„Wir haben unter vielen anderen Geräten eine Windmühle, mit der wir Wasser aus dem Boden pumpen“, begann Bruder Paul. „Durch Reibung ist ein Gehäuse ausgebrannt. Fällt euch dabei irgend etwas ein?“
Alle starrten ihn fragend an – drei Jungen und zwei Mädchen.
„Bei unseren Studien im Orden legen wir Wert auf die Elemente“, fuhr Bruder Paul fort. „Nicht die Atomelemente der alten Wissenschaften, wenn wir uns auch damit befassen, nein, eher die klassischen: Luft, Wasser, Erde und Feuer. Wieder und wieder finden wir diese in den verschiedensten Manifestationen. Sie zeigen sich bei verschiedenen Persönlichkeitstypen, in der Astrologie, bei den Tarotkarten – ihre Symbolik ist universell. Und gerade habe ich..“
„Die Windmühle“, warf das blonde Mädchen ein. „Wind ist Luft, und sie pumpt Wasser!“
„Aus der Erde“, fügte ein Junge hinzu.
„Und sie ist verbrannt“, warf der Mißmutige ein. „Und?“
„Die vier Elemente – alle zusammen“, sagte das erste Mädchen erfreut. Unbewußt schlug sie fröhlich die Hände zusammen. Bruder Paul bemerkte, daß in den Freudensäußerungen des jungen Mädchens etwas sehr Anziehendes lag. Vielleicht war es ein Plan der Natur, daß sie heiratete, ehe sie ihren Eltern zur Last wurde. „Ich finde das schön. Wie ein Puzzle.“
„Aber was soll das?“ fragte der Tölpel.
„Das ist eine Denkübung“, gab Bruder Paul zurück. „Wenn wir Parallelen suchen, Zusammenhänge, neue Aspekte der Dinge, dann finden wir die Bedeutung heraus, und wir werden reifer. Es ist gut, sowohl den Körper zu ertüchtigen als auch den Geist. Die alten Griechen waren davon überzeugt, und von ihnen haben wir sowohl den Satz des Pythagoras als auch die Olympischen Spiele. Auch wir glauben daran. Im eigentlichen Sinne ist es das, um was es bei dem Heiligen Orden der Vision geht. ‚Heilig’ bedeutet auch
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