Der Gott von Tarot
Die Erscheinungen wurden durch seine eigenen Gedanken beherrscht. Wenn er ein Bild mit sich selber darin malen wollte, wer wollte es ihm verbieten? Er legte die Schwert-Sechs auf.
Das Bild erschien. Der Fluß des Unbewußten war zu einem Strom des Bewußtseins geschwollen. Die Brücke war verschwunden; diese Wasser waren dafür zu breit. Er konnte das Schloß nicht mehr sehen. Natürlich war dies ein anderes Bild, auch eine andere Karte; die Kelch-Fünf stand für Verlust, während Schwert-Sechs für eine Seereise stand. Er hatte augenscheinlich die Fünf verloren, doch die Sechs gewonnen.
Er erblickte ein kleines Gefährt auf dem Wasser. Es war ein flaches Boot, in dem eine Frau und ein Kind sowie ein Mann, der das Boot über den Fluß ruderte, saßen. „Warte!“ rief Bruder Paul in plötzlicher Angst, doch sich auch des Wortspiels bewußt: Wait! {2} war auch der Name des Autors dieses Tarotkartenspiels. „Ich will mit!“ Doch sie achteten nicht auf ihn, weil sie sich außer Hörweite befanden, wenn sie überhaupt real existierten. Sie stammten in der Tat von einer anderen Welt, die er nicht betreten konnte.
Er dachte an die verschiedenen Aussprüche des Hierophanten und spürte wieder den Zorn in sich aufsteigen. Er belebte schließlich diese Bilder; er würde seine Antwort bekommen! Sein Vorhaben bestand darin sicherzustellen, ob diesen Erscheinungen irgendein objektiver Wert zukam oder ob sie alle lediglich eine Reihe sich verfestigender Visionen seiner Gedanken darstellten. Wenn das letztere zutraf, dann hatte er die Antwort schon gefunden: Es gab keinen speziellen Gott von Tarot. Wenn das erstere zutraf …
Aber im Moment versuchte er bloß, seinen Weg aus der Situation herauszufinden. Er hatte das Wasser lediglich probieren wollen, nicht in ihm ertrinken.
Wasser – ein ausgezeichnetes Symbol. Warum nicht den Beweis antreten?
Er sprang in den Fluß, wobei er fast erwartete, auf hartem Boden aufzuschlagen, als er mit dem Bauch in der Realität landete. Doch er tauchte sauber hinein; es war nur der Schock des richtigen Wassers, der ihn erschreckte. Es schäumte um ihn her und zerrte an seinen Kleidern. Er hätte sie vorher ablegen sollten. Aber er hatte es nicht recht geglaubt …
Wenn Glaube der Schlüssel zu den Erscheinungen war, wie konnte dieses Wasser dann trotz seines Unglaubens echt sein?
Doch sein Eintritt veränderte bereits das Bild. Das Wasser verflüchtigte sich; der Fluß wurde kleiner. Bruder Paul richtete den Blick auf die Leute im Boot, wollte sich an sie hängen, um das Bild vor dem Verschwinden zu bewahren. Wenn er nur mit ihnen reden könnte, diesen Leuten aus dem Hintergrund der Tarotkarten, und sie fragen könnte …
Das Boot zitterte. Der Mann flog hoch in die Luft, breitete Flügel aus und glitt auf eine niedrige Wolke, Die Frau alterte rasch, wurde runzlig und hager. Das Kind wurde zu einer auffallend hübschen jungen Dame.
Als Bruder Paul sich ihnen näherte, drehten sie sich zu ihm um. Er blieb in einigen Schritten Abstand vor ihnen stehen, merkte, daß er wieder auf den Füßen stand und seine Kleider durchnäßt waren. Sein Blick glitt von einer Frau zur anderen, von der jungen zur alten. Er merkte, daß dies kein Bild aus den Kleinen Arkanen mehr war, sondern aus den Großen. Das war die Arkane Sechs, bekannt als ‚die Liebenden’.
Nun, nicht notwendigerweise. Die Szene umgab eine gewisse Verschwommenheit, es entstand der Eindruck eines vielschichtigen Bildes.
Natürlich. Er hatte keine Karte aus den Großen Arkanen aufgelegt, hatte nicht spezifisch nach einem ‚großen Geheimnis’ gesucht und insofern keine bestimmte Szene festgelegt. Das Bild versuchte, sich selber aus dem Chaos zu bilden. Das durfte er nicht
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