Der Gott von Tarot
Die verhüllte Gestalt hörte ihn und begann sich umzudrehen. Das Gesicht wurde deutlich sichtbar. Aber es war kein Gesicht, nur eine glatte Hautfläche, wie das Gesicht einer unfertigen Schaufenstergruppe.
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Wahl
Der Mensch scheint von Geheimnissen fasziniert zu sein. Geheimnisse und Geheimgesellschaften hat es in der Geschichte immer zahlreich gegeben; einige waren mit einer ganzen Klasse von Menschen verbunden, zum Beispiel mit den Initiationsriten für junge Menschen, andere hatten mit der Religion zu tun wie auch mit den Mysterienkults der hellenischen Welt. Andere wiederum hingen mit speziellen Interessen zusammen wie abweichenden Sexualpraktiken, Bruderschaften oder dem Okkulten. Die Arkanen des Tarotspiels reflektieren dieses Interesse; das Wort ‚Arkanum’ bedeutet Geheimnis. Die Großen Arkanen sind die großen Geheimnisse, die Kleinen die kleineren. Daher überraschte es nicht, wenn das Tarotspiel Gegenstand ernster Forschung durch einige Geheimgesellschaften gewesen ist. Die bedeutendste Untersuchung wurde durch den Hermetischen Orden der Goldenen Dämmerung durchgeführt, der 1887 als Zweig der Englischen Rosenkreuzer gegründet wurde, die selber zwanzig Jahre zuvor aus der Freimaurerei hervorgegangen waren, die wiederum von den Steinmetzen oder der Bauhütte abstammten. Die Goldene Dämmerung hatte 144 Mitglieder – innerhalb des arkanischen Kontextes eine bedeutsame Zahl – und wurde zur Erlangung von initiatorischem Wissen und Kräften sowie von Praktiken zeremonieller Magie gegründet. Viele Persönlichkeiten des täglichen Lebens waren Mitglieder, wie Bram Stoker (der Autor des Romans Dracula ) und Sax Rohmer (Schöpfer des Fu Man Chu ) . Einer der Großmeister war der prominente Dichter William Butler Yeats. Er führte den Vorsitz bei vielen Sitzungen, angetan mit einem schwarzen Kilt, einer schwarzen Maske und mit einem goldenen Dolch im Gürtel. Heute jedoch kennt man die Goldene Dämmerung nur noch wegen ihrer Wirkung auf das Tarotspiel. Arthur Edward Waite, Schöpfer des bekannten Rider-Waite-Spiels, war Mitglied, ebenso Paul Foster Case, ein bedeutender Tarotwissenschaftler, wie auch Alistair Crowley – von dem man sagte, er sei der verderbteste Mensch der Welt –, der das Thoth-Tarot-Spiel unter dem Namen Therion entwickelte. Crowley war ein hochintelligenter und gebildeter Mensch, Autor einer Reihe kluger Bücher, doch er kannte starke Leidenschaften, gab sich Drogen wie Kokain und Heroin hin, praktizierte die Schwarze Magie (bei einem Fall starb ein Mensch, und Crowley saß mehrere Monate in einer Nervenheilanstalt; man hatte den Satan herbeigerufen) und besaß homosexuelle Neigungen, die ihn dazu brachten, daß er Frauen demütigte. Er kaufte sich in Italien einen Landsitz mit Namen Abtei von Thelema, wo er seinen dunklen Geschäften nachging, und dieser wurde bald berüchtigt. Doch trotz aller Fehler des Schöpfers blieb Crowleys Thoth-Tarot-Spiel wohl das schönste und wichtigste aller Kartenentwürfe und ist es wohl wert, von jedem, der sich dafür interessiert, studiert zu werden.
Das Bild um ihn her zuckte und wurde verschwommen. Bruder Paul zögerte, doch er erkannte sogleich das Problem: Sein Betreten der Erscheinung veränderte das Bild. Vielleicht war es dem legendären chinesischen Künstler – wie war doch gleich sein Name – gelungen, seine eigenen realistischen Gemälde zu betreten, um aus der Welt zu verschwinden, doch nur wenige andere hatten einen solchen Status erreicht! Bruder Paul konnte nur zuschauen, nicht teilnehmen.
Aber warum nicht !
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