Der Gott von Tarot
friedliebenden Menschen und keinen Krieger; warum sollte er ein Lebewesen mit dem brutalen Schwert angreifen? Doch dies war kein lebendiges Wesen, sondern ein herbeigezaubertes Symbol. Aber die Frage lenkte ihn ab.
Der Drache der Versuchung kam bis auf zwei Meter Entfernung herbei. Verächtlich blickte er Bruder Paul an. Er hatte große gelbe Augen, und sein Blick war recht eindrucksvoll. Die rote Schnauze war mit großen, haarigen grünblauen Warzen bedeckt, und aus der Stirn ragten verknöcherte graue Hörner. Die Stoßzähne waren gebogen und schleimbedeckt. Bruder Paul fragte sich abwesend, ob das Wesen wohl in einem von Therions schleimigen Kelchen herumgenascht hatte, ehe es hierherkam.
Die gezähnte Zunge zuckte heraus und stieß wie ein Pfeil nach Bruder Paul, hielt aber kurz vor dem Ziel inne. Langsam flappten die kleinen Flügel vor und zurück, und zwischen den gefederten Rippen kräuselte sich die ledrige Haut. Bruder Paul konnte sich nicht erinnern, jemals etwas Häßlicheres gesehen zu haben.
„Was’n los?“ fragte der Drache. „Ein Hühnchen?“
Bruder Paul spürte Wut in sich aufsteigen. Was für ein Recht hatte dieses widerliche Wesen, ihm Spitznamen zu geben? Er umklammerte sein Schwert und trat einen Schritt vor.
Und blieb stehen. Das war die Versuchung – der Trieb, aus nichtigem Grund Gewalt anzuwenden. Das Monster hatte ihn also ein Hühnchen genannt; aber warum sollte er auf einen so alten Scherz so reagieren? Das war die niederste Ebene sozialer Interaktion und Gewalt die Zuflucht der Unfähigen. „Ich möchte bloß das Schloß besuchen, denn ich vermute, die von mir benötigte Information liegt dort drinnen. Wenn du bitte freundlich zur Seite treten würdest. Denn zwischen uns braucht es keinen Streit zu geben.“
„Die Versuchung tritt niemals beiseite!“ schnaubte die Kreatur. Sie konnte sehr gut zur gleichen Zeit sprechen und schnauben. „Zuerst mußt du mich besiegen, ehe du auf deiner Mission fortfahren kannst, du Hühnchen!“
„Aber ich will dich nicht umbringen. Ich werde zufrieden sein, an dir vorbeizugehen.“
„Du kannst mich doch gar nicht umbringen! Ich bin von Ewigkeit. Du kannst auch nicht an mir vorbeigehen. Eigentlich kannst du auch gar nicht gegen mich kämpfen; du bist von Natur aus ein Feigling. Warum verläßt du nicht die Szene anstatt hier die Luft zu verpesten?“
Als hätte er das nicht schon versucht! „Ich würde gern, wenn ich nicht meine Mission hätte. Danach aber werde ich gehen. Nun geh bitte beiseite.“ Bruder Paul schritt vorwärts.
Der Drache blieb stehen. „Man kann die Versuchung nicht bluffen!“ knurrte er.
Bruder Paul weigerte sich, ohne weitere Provokation mit dem Schwert zuzuschlagen. Wenn er auch wußte, der Drache war bloß ein Symbol, so war doch die Ähnlichkeit zu einem lebendigen, intelligenten (wenn auch häßlichen) Wesen zu stark.
Er schritt zur Seite – und wieder stand der Drache vor ihm. Wunderbarerweise war er gesprungen, um ihm den Weg zu versperren, Paul wechselte die Richtung – und wieder versperrte er ihm den Weg.
So lief das also. Das Wesen versuchte, ihn zum Zuschlagen zu bewegen. Und wenn er den ersten Streich tat, war er der Versuchung erlegen.
Dieses Mal ging Bruder Paul direkt auf den Drachen zu. Und sprang vor der warzigen Schnauze fort.
Therion war ein wenig abseits stehengeblieben und beobachtete mit morbidem Interesse die Szene. „Er hat mich nicht gebissen“, meinte Bruder Paul überrascht.
„Die Versuchung greift nicht physisch an“, erklärte Therion. „Sie bietet lediglich eine reizvollere Alternative an. Aber sie muß besiegt werden.“
Bruder Paul konnte nichts Reizvolles an dem Drachen entdecken. Er versuchte wieder, ihn zu umgehen, und
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