Der Gott von Tarot
eine sehr schwierige Frage, denn wie konnte er den Wert des Materials, das seiner eigenen Erfahrung entstammte, beurteilen? Es war wie der Versuch, einen Test zu entwickeln, ob eine Person wach war oder träumte: Er konnte sich kneifen – und träumen, daß er gekniffen wurde. Wenn er jedes Detail einer Animation bestimmen konnte, würde jeweils dieses Detail authentisch sein; wenn er einer Fehlinformation unterlag, wie konnte er das Bild korrigieren? Doch nun erschien es ihm als gewiß, daß ein Einfluß anderer Gedanken bestand, denn Bruder Paul hatte zuvor nicht alle Details der Tarotvarianten gekannt, die er in dieser Erscheinung kennengelernt hatte. Einige der Vorstellungen, die diese Theriongestalt ihm präsentiert hatte, waren ihm vollständig neu, doch auch dies konnten wiederum seine eigenen unterdrückten Anschauungen sein, die zum Vorschein kamen, und das war um so schockierender, als er ihre Existenz zuvor immer verneint hatte. Das schwerste für einen Menschen ist wohl, die häßlichen Bestandteile seines Ichs zu akzeptieren.
Daher sollte er diesen Dingen gegenübertreten. Vielleicht war es das Beste, sich hineinzustürzen in diese Vision und die Antwort zu ergreifen, ehe sie verschwand. Sicher war sie in einem dieser aufgestellten Kelche enthalten. Jedenfalls schuldete er diesen Blick sich selbst und seiner Mission.
Er untersuchte die Kelche eingehender. Einer enthielt ein Miniaturschloß; ein anderer floß über mit Edelsteinen, ein anderer enthielt einen Kranz, einen Drachen, einen Frauenkopf, eine Schlange und eine verhüllte Gestalt, allesamt Symbole, deren Bedeutung er während seiner Studien beim Heiligen Orden der Vision erfahren hatte. Aber niemals zuvor hatte er sie so faßbar wie hier vorgefunden, und er wußte nun auch, daß sich diese belebten Symbole nicht passiv zu einer konventionellen Analyse hergeben würden.
Das Schloß hatte Ähnlichkeit mit dem, das er auf vorherigen Karten schon gesehen hatte, und war vermutlich das gleiche Gebäude. Der Symbolismus im Tarotspiel neigte zur Konsistenz; ein Fluß war immer der Strom des Unbewußten, der in dem schleppenden, fließenden Gewand der Hohepriesterin entsprang, und der Kelch war immer ein Gefäß der Emotion oder Religion. Das Schloß stellte für ihn ein Stichwort dar, eine ursprüngliche Antwort. Wenn er dort eintrat?
Nun, er konnte es versuchen. Er neigte dazu, zuviel Zeit beim Nachdenken zu verbringen, anstatt zu handeln.
Und das Schloß vergrößerte sich, brach aus dem Kelch heraus, wurde zu einem prachtvollen Gebäude mit wehenden Fahnen auf hohen Türmen und lag auf der Spitze eines steilen Berges. Wunderschön!
Bruder Paul machte sich auf den Weg. Therion begleitete ihn und summte eine Melodie, als seien ihm die Vorgänge völlig gleichgültig.
„Das Lied habe ich schon einmal gehört“, sagte Bruder Paul, entschlossen, den Mann nicht so leicht aus der Verantwortung zu entlassen.
„Das ‚Rätsellied’“, antwortete Therion auch prompt. „Eine der wahrhaft feinen, unterschwellig sexuellen Ausdrucksformen des Volkes.“
„Ja, genau. ‚Ich gab meiner Liebsten eine Kirsche …’ Aber warum sexuell? Das ist ein eindeutiges Liebeslied.“
„Haha. Die Kirsche war ihre Jungfernhaut, die er durchbohrt hat. Du hast ein zu klösterliches Leben geführt und niemals richtige Umgangssprache gelernt.“
„Oh? Er gab ihr auch ein Hühnchen ohne Knochen, einen Ring ohne Ende und ein Baby, das nicht weinte.“
„Das knochenlose Hühnchen war sein knochenloser, nichtsdestoweniger aber steifer Penis, der sich durch ihre ringförmige Öffnung bohrte und in entsprechender
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