Der Gott von Tarot
gehalten, doch er war froh, sich auf die biblische Arena zurückziehen zu können. In den vergangenen Jahren hatte er viel in der Bibel gelesen und war sowohl von der Geschichte als auch der Religion fasziniert. Auch reizte ihn die Kontinuität der Bibel in den Apokryphen und Pseudoepigraphia. „Jedenfalls hat ihn der Engel nicht geschlagen, und er hat von ihm einen Segen, den Namen Israel erzwungen, was heißt ‚Prinz Gottes’, und hat den Stamm Israel gegründet.“
„Und seine Tochter Dina wurde vergewaltigt“, sagte der Dämon mit fröhlichem Lächeln.
Dieses Wesen erinnerte Bruder Paul sehr stark an Therion. Er blickte sich um, aber Therion stand immer noch dort. Doch als er weiterdachte, meinte er, Therion hätte wohl die Vergewaltigung nicht gefallen, nicht aus Vernunftgründen, sondern weil der sexuelle Akt ihm als männliches Opfer an eine unwürdige Frau galt. Warum diese Gabe einer geringen Frau aufzwingen? „Vergewaltigung ist ein zu starker Ausdruck“, fuhr Bruder Paul fort. „Der junge Mann war ehrenwert und bat, Dina offiziell heiraten zu dürfen. Er hat sogar die Bedingung akzeptiert, sich beschneiden zu lassen, obwohl er ein hochgeborener Prinz war.“
„Ja, das haben sie vertuscht“, sagte der Dämon. „Sie haben versucht, daraus einen guten Fick zu machen, damit sie ihn nicht steinigen mußten wegen Vergewaltigung und sie wegen Nachgiebigkeit. Eine Menge saftiger Details haben sie aus der Heiligen Schrift herauszensiert.“
Bruder Paul wollte gerade eine wütende Antwort geben, merkte aber dann, daß dies lediglich ein weiterer Aspekt des Kampfes war. Die Versuchung focht sowohl mit Ideen als auch mit Worten, und die Wahrheit war unwichtig. Wenn Verzerrung und Umgangssprache Bruder Paul dazu brachten, die Geduld zu verlieren, läge der Sieg beim Drachen.
Allerdings waren diese Seitenhiebe auf die Authentizität der Bibel etwas, was Bruder Paul insgeheim auch schon überdacht hatte. Er schätzte es, die gesamte Bedeutung dessen, was er las, zu erfassen, und vieles in der Bibel blieb auf quälende Weise vieldeutig. Jakobs Begegnung mit dem Engel des Herrn – das war ein Rätsel! Warum sollte ein Engel mit einem Sterblichen ringen wollen, und warum würde so etwas Reines wie ein Engel jemals einer Versuchung erliegen? Doch Bruder Paul wußte, er durfte die Bibel nur unter äußerster Vorsicht herausfordern, denn es war ein Dokument, das Generationen von Gelehrten nicht mit Sicherheit in Zweifel ziehen konnten. Die archäologischen Beweise unterstützten darüber hinaus noch die Richtigkeit der biblischen Aussagen. Wer war er denn, ein kleiner Novize in einem kleinen Orden, um sein schwächliches Urteil gegen die gesammelte Weisheit und Offenbarung der Zeiten zu setzen?
Auch hier mußte er also der Versuchung widerstehen. Es war nicht an ihm, irgendeinen Aspekt der Schrift in aller Öffentlichkeit zu diskutieren. Es war ein Fehler gewesen, es hier heraufzubeschwören. Was er tat, lag in seiner Verantwortlichkeit; es durfte nicht durch Bezüge auf die Bibel gerechtfertigt werden. Es war eine Perversion, die Heilige Schrift den eigenen Zwecken dienlich zu machen – wenn dies auch viele Spötter aus Eigennutz taten.
„Genug davon“, sagte Bruder Paul. „Wenn du mich nicht vorbeiläßt, muß ich einen Hebelgriff anwenden.“
Der Dämon lachte. Er war größer als Bruder Paul und sah kräftiger aus. Aber wie kräftig war er wirklich? Versuchung konnte nicht mit weltlichen Maßen gemessen werden.
Bruder Paul trat auf das Schloß zu, und natürlich stellte sich der Dämon ihm sogleich in den Weg. Dieses Mal ging Bruder Paul jedoch weiter, stieß gegen die rechte
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