Der Gottbettler: Roman (German Edition)
Dutzend Schritte entfernt den Hohen Herrn massakrierten. Terca war froh, bloß einen Teil von Rudynar Poles Körper sehen zu können. Es war auch so schlimm genug und würde ihr, einer Hexe, die schon die schlimmsten Dinge gesehen und miterlebt hatte, einige unruhige Nächte bescheren.
Da war viel Blut. Haarige Hautfetzen, die vom Kopf ihres Begleiters stammten. Fleisch, würfelig und in Streifen geschnitten. Innereien, Zähne, Knochen. Teile eines Wesens, dessen Herz immer noch schlug und schlug und schlug!
Die Sibylle … Ihr Kuss und ihre Berührungen hatten ausgereicht, um aus Rudynar Pole etwas Außergewöhnliches zu machen. Er besitzt eine Art Unsterblichkeit. Sie werden ihn in kleinste Stücke hacken müssen, wollen sie sein Leben auslöschen.
Terca fühlte den Triumph in Rudynar Poles Gedanken. Er war so unendlich froh, sein Leben endlich hinter sich zu bringen. Pure Erleichterung schwappte über sein Denken, über den Schmerz hinweg, während sein Herz rasend schnell schlug.
»Wir können ihn noch retten!«, rief Pirmen, der sich, obwohl auf eine Krücke angewiesen, ebenfalls weit genug vorgedrängt hatte. Niemand achtete auf sie und den Stummen Jungen. »Wir müssen bloß …«
»Lass es.«
»Aber …«
»Lass es.« Terca legte ihm begütigend eine Hand auf die Schulter.
»Wir können doch nicht … Der Gottbettler … Wir haben einen Auftrag …«
Niemand hat einen Auftrag, dachte sie. Wir fühlen uns bloß aneinander gebunden. Wir folgen Spuren, die andere Leute gelegt haben, und tanzen wie Marionetten an Schnüren, die ein Toter bewegt. Das Schicksal wollte, dass es für Rudynar Pole so endet, und wer weiß, wozu es gut ist. Vielleicht ist der Weg des Gottbettlers ja der richtige, und wir sind bloß zu dumm und zu borniert, um seinen großen Plan zu erkennen.
Rudynar Poles Herzschlag wurde langsamer, die Wildheit der Soldaten noch größer. Hier und jetzt entlud sich ein Donnerwetter an Gefühlen, das ganz gewiss keinen natürlichen Ursprung hatte. Die Frauen und Männer des Gottbettlers fühlten in ihrem tiefsten Innersten das Gleiche wie sie: dass hier kein Krieger, sondern ein ganz besonderes Wesen lag, das ihrer aller Lebensgrundlage zunichtemachen konnte.
Das Herz setzte aus, schlug dann wieder, verlor erneut seinen Rhythmus. Rudynar Pole war nicht mehr als der zu erkennen, der er einstmals gewesen war.
Innere Ruhe füllte Terca aus. Alles war längst nicht mehr so schlimm wie noch vor wenigen Augenblicken. Ihre Sorgen waren weit weg, auch ihre Ängste – und selbst dieser niemals nachlassende Wunsch, alles und jeden rings um sie zu kontrollieren.
»Es ist alles gut«, sagte sie leise. »Schlaf gut, Hoher Herr.«
Das Herz des dummen, dummen Säufers stand endlich still. Ringsum wurde es ruhig, bis sich die Freude der Soldaten in einem stimmgewaltigen Schrei entlud. Bloß eine Stimme klang entsetzt und schrill.
Doch niemand achtete auf den Stummen Jungen, der mit einem Mal zu sich gekommen war und registriert hatte, dass sein Vater gestorben war.
17. Auf dieser verfluchten Insel
Der Gottbettler ließ sich Zeit, bevor er der Sibylle in deren bevorzugtes Versteck folgte. Er reiste wie immer mit wenig Gepäck. Kraft seiner Gedanken flog er dahin und ließ sich auf einem winzigen Eiland nieder, auf einem namenlosen Felsen vor der Küste von Lirballem in der Cabrischen See, der gerade mal zwei Dutzend Schafzüchtern ein karges Zuhause bot.
Sie trafen sich in einer Kate, die seit Jahrzehnten kein Lebender mehr betreten hatte. In einer Ecke stand ein Schaukelstuhl. Eine Gestalt saß darin, eine Frau, die mit toten Augen auf die See hinausstarrte. Wind pfiff durch Ritzen, der Stuhl bewegte sich ein wenig, er knarrte leise über die Dielen.
»Dinge ändern sich«, sagte die Sibylle. »Sie ändern sich rasant . Was gestern für alle Ewigkeiten Bestand zu haben schien, ist heute nur noch ein morsches Bauwerk, das irgendwann zusammenbrechen wird.«
»Sagen Sie, was Sie zu sagen haben, und lassen Sie diese Vergleiche. Ich habe es nicht sonderlich mit Metaphorik«, sagte der Gottbettler. Er erinnerte sich an dieses seltsame Wort, wusste allerdings nicht, ob er es richtig einsetzte. Er hatte vor langer Zeit aufgehört, sich mit Sprache zu beschäftigen.
»Wir lieben diesen Ort …«
»Ich weiß.«
»Man sagt, dass hier unsere Vorväter aus der Erde gekrochen kamen. Leider gibt es keine Zeugen mehr. Und sollte es noch welche geben, würden sie ganz gewiss nicht darüber sprechen.«
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