Der Gottbettler: Roman (German Edition)
Die Sibylle sammelte sich, fuhr zwei ihrer Arme in den Körper ein, veränderte ihr Antlitz und erschien kraft ihres Willens plötzlich wie eine ganz gewöhnliche Menschenfrau. »Wir sind uns uneins, ob wir das Bündnis mit Ihnen aufrechterhalten sollen, Gottbettler.«
Ihre Worte erzeugten Schmerzen. Und damit auch Erleichterung. Er hatte sich schon gefragt, wann das seltsame Wesen endlich damit beginnen würde, ihn zu quälen. »Es ist unabdingbar, dass wir gemeinsam weitermachen, Sibylle.«
»Ach ja? Nennen Sie mir einen Grund, warum wir uns mit einem Verlierer abgeben sollten.« Sie beugte sich über den Leichnam, zerschnitt mit ihren spitzen Fingernägeln das fadenscheinig gewordene Gewand und griff zwischen die Rippen der toten Frau. »Mächtige Feinde sind auf dem Weg in Ihr Kernland; sie lassen sich durch nichts davon abhalten. Der Eroberungszug Ihres Heeres ist zu einem Stillstand gekommen. Wir sind der Meinung, dass Sie es niemals schaffen werden, den gesamten Weltenkreis unter einem einzigen Banner zu vereinen. Zudem hat dieses Heer zwei seiner drei Führer verloren. Es ist nur noch Metcairn Nife übrig. Er mag ja der starke Mann sein, um den sich bisher alles drehte. Doch er ist müde geworden und beginnt zu zweifeln. Er wird es nicht schaffen, ohne seine Linke und seinen Rechten für Ordnung zu sorgen.«
»Es wird Nachfolger geben …«
»Natürlich wird es das. Aber sie werden schwach sein. Irgendwelche Lakaien, Menschen aus inzestuösen Blutlinien irgendeines Adelsgeschlechts aus der Blume von Oriath, die oben nicht von unten unterscheiden können.«
»Es wird Nachfolger geben«, beharrte der Gottbettler. »Solche, die geeignet sind.«
»Ich habe andere Leute so wie Sie sprechen gehört. Gleich darauf sind sie mit ihren Schiffen in der See versunken oder einen Abgrund hinuntergestürzt oder in der Schlacht getötet worden. Sie machten sich selbst Mut, bevor der Große Gleichmacher sie abholte.«
»Der Große Gleichmacher ist bloß eine allegorische Figur, ein Mythos, und Sie wissen das, Sibylle. Die Wirklichkeit ist viel grausamer.« Er hasste diese trivialen Gespräche. Er hatte keinen Kopf dafür. Er wollte zurück in die heimatliche Stadt und sich dort in die Anonymität der Bürger mischen, unter einer Brücke schlafen und um Almosen betteln, weit weg von all den Problemen, mit denen man ihn belastete.
Was für eine Ironie des Schicksals. Er war dank seines Intellekts und seiner Geistesfähigkeiten mächtiger als die Götter und aufgrund seiner Unfähigkeit, das Leben der niederen Wesen zu verstehen, schwächer als deren geringster.
»Es wird alles wieder gut«, wiederholte er. »Das Heer wird weiterbestehen. Ich habe bereits einen Nachfolger für Metcairn Nife ausfindig gemacht.«
»Was ist mit dem Linken, was mit dem Rechten? Meine Schwestern im Heeresverbund wollen Antworten von mir. Ratschläge. Hinweise, wie es weitergehen wird.«
»Schon bei den geringsten Problemen geraten Sie und Ihre Brut in Panik. Sie stellen sinnlose Fragen. Manchmal zweifle ich an meiner Fähigkeit, die richtigen Verbündeten auszuwählen.«
»Verzeihen Sie uns unsere Dummheit. Wir verfügen leider nicht über Ihren Weitblick.«
Es klang spöttisch, und es war spöttisch gemeint. Die Sibylle zog irgendetwas aus der Brust der Toten, betrachtete es sinnend und schluckte es dann hinunter. Sie verdrehte dabei genießerisch die Augen.
»In einer Woche wird diese Angelegenheit entschieden sein«, sagte der Gottbettler. »Bis dahin bitte ich um Ihre Geduld. Verhalten Sie sich ruhig, und vertrauen Sie mir.«
»Was geschieht in einer Woche?«
»Ich werde die einzigen Personen, die mir gefährlich werden könnten, aus dem Weg räumen. Wicca, Magicus und der Stumme Junge sind auf dem Weg zu mir. Ich werde warten und mich ihrer entledigen. Danach läuft alles so weiter wie geplant.«
»Sie wollen tatsächlich allein gegen das Triumvirat der Macht bestehen? Wie aufregend.«
Es war das erste Mal im Verlauf des Gesprächs, dass die Sibylle so etwas wie Interesse an seinen Plänen zeigte. Wie der Gottbettler wusste, sehnten sie sich nach dem Ungewöhnlichen. Nach Gefühlen, wie Menschen sie empfanden. Nach Widersprüchen, nach Wahnvorstellungen, nach Geisteskrankheiten. Aus keinem anderen Grund hatten sie einer Zusammenarbeit zugestimmt, denn sein Geist war der verrückteste, den man sich nur vorstellen konnte. Also suchten sie ihn jede Nacht heim, während er schlief, nisteten sich in seinem Kopf ein, zupften hier
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