Der Gottbettler: Roman (German Edition)
sich im Laufe ihres langen Lebens angeeignet hatte.
Wie seltsam … Sie fühlte den Stummen Jungen. Seinen Geist, der verworren und auf der anderen Seite völlig klar war. Seine Verzweiflung. Seine Sehnsucht, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten und sich mitzuteilen. Terca schluckte. Er war weiß und klar und unberührt. Niemals zuvor hatte sie ein Wesen gespürt, das derart rein gewesen war. Ihm fehlte jegliche Form von Schlechtheit. Da war kein Zorn, keine Niederträchtigkeit, keine Eifersucht oder auch nur ein einziger böser Gedanke. Der Knabe war schlichtweg … perfekt.
Sie fühlte den Wunsch niederzuknien und zu diesem Wesen hochzusehen, es anzuhimmeln, es anzubeten. Tränen traten ihr in die Augen. Sie wollte dem Stummen Jungen all ihre Verfehlungen beichten und ihm versprechen, niemals mehr wieder etwas zu tun, das andere Geschöpfe in diesem Weltenkreis verletzen könnte. Alles hätte sie für ihn gegeben, alles …
»Verschwinde, alte Vettel!« Jemand rempelte sie an. Ein Soldat, der seinen mehrfach eingekerbten Schild vor sich hielt und Passanten beiseitedrängte. »Da gibt’s nichts zu sehen!«
Terca kehrte in die Realität zurück. Ihr Herz pochte heftig, die Hände zitterten. Auch Pirmen wirkte reichlich verschreckt. Beide blickten sie auf den Stummen Jungen, der sich gegen ihre Schultern lehnte und teilnahmslos vor sich hin starrte. Ohne irgendein Interesse an der Situation zu zeigen, völlig in sich gekehrt, die Lippen wie im Gebet bewegend.
»Wird’s bald?« Der Soldat rückte näher. Eben noch hatte er mit der Breitseite der Waffe gedroht. Nun drehte er sie so, dass die Schneide Terca zerhacken würde.
»Du wirst uns anstandslos passieren lassen«, singsangte Terca. »Du wirst deine Kameraden davon überzeugen, dass wir zum Gasthaus dürfen. Wir sind wichtig. Wir werden dort dringend benötigt. Hast du mich verstanden?«
Eine Mannesstimme fiel ein. »Wenn du uns nicht gehorchst, wirst du deinen Lebtag lang von Wanzen träumen«, sagte Pirmen. »Wanzen, die über deinen Körper kriechen, dein Fleisch zerbeißen und ihre Eier unter deiner Haut ablegen.«
Typisch Magicus. Wo ein Befehl reichte, fügten sie Drohungen hinzu und schufen Schreckensbilder. Wie viele Leben hatten Kreaturen wie dieser da aus einer Laune heraus zerstört?
»J… ja.« Der Soldat machte nicht nur den Weg frei, er fuhr auch seine Kollegen rechts und links an, gefälligst Platz zu machen. Die Männer gehorchten anstandslos. Auch sie waren von einem Teil der Dusus gestreift, ihre Willenskraft geschwächt.
Sie schlüpften durch den Kordon und querten die geräumte Fläche vor dem Feisten Kapaun . Niemand achtete auf sie. Die Aufmerksamkeit all jener Soldaten rings um die Holzbretterbude war aufs Innere des Wirtshauses gerichtet. Anfeuerungsrufe wurden laut, dann ertönte ein einziger, lang gezogener Entsetzensschrei.
Waren sie zu spät gekommen, bloß um wenige Augenblicke? Hatten die Soldaten des Gottbettlers Rudynar Pole hingerichtet?
Nein! Terca hätte es gefühlt. Die Verbindung zwischen ihr, Pirmen und Rudynar Pole hatte während der gemeinsamen Reise eine nahezu unfassbare Intensität erreicht. Sie spürte, dass er noch am Leben war.
Weiteres Gebrüll. Zornig und laut. Menschen geiferten ihre Wut in die Welt hinaus, verwandelten sich in instinktgesteuerte Tiere, in eine Masse, die keinen Verstand hatte und sich nur noch von ihren Gefühlen leiten ließ.
»Wir müssen da rein!«, drängte sie Pirmen. »Sofort!«
Der Kleine nickte und humpelte so rasch er konnte auf das Wirtshaus zu. Ein weiteres Mal verbanden sie ihre Kräfte, Mann und Frau, Magicus und Wicca, und befahlen den Soldaten, zur Seite zu treten.
Niemand gehorchte. Die Bewaffneten tobten und schrien und kreischten, waren völlig enthemmt, waren nicht mehr bei Sinnen. »Stopf ihm die eigenen Eier ins Maul!«, schrie der eine. »Reiß ihm die Gedärme aus dem Leib und verfütter sie an die Schweine!«, ein anderer. Vieles, was gebrüllt wurde, blieb unverständlich. Die Soldaten hatten ihre Sprache verloren, wie sie ihre Beherrschung verloren hatten.
»Nein!«, rief Terca, die das Herz von Rudynar Pole schlagen zu fühlen glaubte. Ja, es pochte laut und unregelmäßig. »Lasst uns durch!«
Sie zwängte sich vorbei, verteilte Ellbogenstöße nach allen Richtungen und verschmolz mit einer wogenden Masse, die von den übelsten Emotionen getragen wurde. Die Soldaten stachen mit ihren Messern in die Luft und ahmten damit jene nach, die ein
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