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Der Gottesschrein

Der Gottesschrein

Titel: Der Gottesschrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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ein alttestamentlicher Prophetenbart, der nicht so recht zum Mönchshabit passt. Dass er keine Tonsur trägt, habe ich gesehen, als ihm die Kapuze seines Skapuliers, die er trotz der Gluthitze hochgezogen hat, von einer Windbö vom Kopf geweht wurde. Wer hat ihn geschickt, um mich zu überwachen? Patriarch Joachim? Oder Rabbi Eleazar, der von Elija weiß, wer ich bin?
    »Ihr wartet hier auf mich. Karim und Khalid, ihr behaltet den Dominikaner dort drüben im Auge. Seht ihr ihn am Stand des Obstverkäufers? Wenn er verschwindet, folgt ihr ihm unauffällig. Ich will wissen, wohin er geht.«
    »Ist gut«, schmollt Karim, der beinahe hintenüberfällt, als er den Hals verdreht, um durch das Portal einen Blick ins Innere der Markuskirche zu erhaschen. Nur zu gern hätte der kleine Abenteurer mich begleitet.
    »Ioannis, Basilios, Akiva und Elija, ihr setzt euch still auf die Treppe und haltet Ausschau nach den Tempelrittern. Falls sie auftauchen, versteckt ihr euch in der Kirche. Sie dürfen euch auf keinen Fall sehen. Verstanden? Gut. Ich bin in einer Stunde zurück. Dann bekommt jeder eine Orange.«
    »O ja!«, rufen die Jungen und hüpfen um mich herum.
    »Darf ich mitgehen?« Elija streckt mir seine Hand entgegen, hält den Kopf schief und blickt mich mit großen, flehenden Augen erwartungsvoll an. Seit ich ihn gestern Abend fortgeschickt habe, ist er noch anhänglicher geworden.
    »Nein, Mäuschen, du bleibst hier.« Ich verwuschele sein lockiges Haar, das nicht mehr ganz so staubig und zerzaust ist. Rabbi Eleazar hat ihn gestern Abend in die Badewanne gesteckt und in seiner Kleidung, die ebenfalls eine Wäsche vertrug, den ›Firman‹ mit meinem Namen gefunden …

    »Alessandra d’Ascoli?«, spricht mich eine freundliche Stimme an, als ich mich in der alten Kreuzfahrerkirche umsehe und das auf Leder gemalte Bild der heiligen Jungfrau mit dem Jesuskind betrachte. Der Legende zufolge soll es der Evangelist Lukas gemalt haben.
    Vor mir steht ein Priester mit langem weißen Bart im Gewand der syrisch-orthodoxen Kirche, einer schwarzen Soutane mit Kapuze und einer Haube, die an einen kleinen schwarzen Turban erinnert. »Du wolltest mich sprechen? Ich bin Mar Philoxenos bar Sanherib, der Abt des Markusklosters«, stellt er sich auf Arabisch vor und reicht mir mit einem freundlichen Lächeln die Hand. Mar ist der Titel und die Anrede eines syrisch-orthodoxen Würdenträgers und bedeutet ›Vater‹. »Ich fühle mich geehrt, dich kennenzulernen.«
    Er mag um die siebzig sein, ein Mönch mit beherrschten Gesten und einem festen Händedruck. Sein pergamentfarbenes Gesicht wirkt asketisch, ernst und würdevoll.
    »Du weißt, wer ich bin?«
    »O ja, aber gewiss doch! Mar Abdul Masih, einer der Mönche dieses Klosters, hat mir von dir erzählt. Vielleicht erinnerst du dich an ihn? Auf Wunsch Seiner Heiligkeit, Mar Baselios IV . Shemun, hat er vor einigen Monaten am Unionskonzil teilgenommen. Er war beeindruckt von deiner Bibliothek und deinem Scriptorium in Florenz und hat etliche herrliche Folianten mit nach Jerusalem gebracht.«
    Die orthodoxen Syrer genießen im Orient denselben Ruf der Gelehrsamkeit wie einst, während des Goldenen Zeitalters, die sephardischen Juden im Okzident, die arabische Werke ins Lateinische übersetzten und muslimisches Wissen im christlichen Europa verbreiteten. Aramäisch ist das ›Latein des Orients‹. Die syrischen Gelehrten übertrugen philosophische, theologische und medizinische Abhandlungen vom Griechischen ins Arabische. Die Kalifen in Bagdad schätzten ihre hochgebildeten syrisch-orthodoxen Leibärzte und Sekretäre als bedeutende Gelehrte.
    »Nun? Was kann ich für dich tun?«, fragt Mar Philoxenos.
    »Ehrwürdiger Abt, ich bin auf der Suche nach einem Mönch, der biblische aramäische Handschriften übersetzen kann.«
    »So.« In seinem Gesicht arbeitet es. Er wirkt traurig.
    Was hat er denn plötzlich?
    O Gott, ich ahne es!
    »Ich bin im Auftrag Seiner Heiligkeit des Papstes in Jerusalem.« Ich entfalte das Beglaubigungsschreiben und gebe es ihm, während er umständlich eine Brille aus seinem Habit zieht. »Vor einigen Wochen wurde ein Papyrus aus dem Geheimarchiv des Vatikans gestohlen. Ich bin auf der Suche nach dem Mönch, der seit drei oder vier Tagen diese Schriftrolle, die eine Länge von etwa zwanzig Ellen hat, ins Lateinische übersetzt. Der Auftraggeber ist ein portugiesischer Christusritter, Dom Tristão de Castro. Auf seinem Habit, den er möglicherweise durch ein

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