Der Gottesschrein
durch die Jahrtausende. Wenn ich doch nur sehen könnte, wohin ich gehe!
Nichts ist zu hören außer dem Knirschen meiner Sandalen und dem Rauschen des Regenwassers.
Unvermittelt stolpere ich über einen großen Stein, der polternd wegrollt. Ich bleibe stehen und entflamme noch ein Zündschwämmchen. Das letzte.
Der Gang vor mir ist eingestürzt!
Entsetzt starre ich hinauf zur geborstenen Decke, von der etliche Steinquader herabgefallen sind. Mehrere Quader hängen gefährlich schief, gerade noch von morschen Holzbalken gehalten, die so aussehen, als würden sie zusammenbrechen, wenn ich sie versehentlich berühre. Auch die Wand am Ende dieses Korridors scheint vor langer Zeit eingebrochen zu sein. Plötzlich schrecke ich auf – war da nicht ein Geräusch?
Mit angehaltenem Atem horche ich in die Stille.
Nichts.
Dann: ein metallisches Klingen am Eingang der Galerie! Der Schlag eines Feuersteins?
Sofort werfe ich den glühenden Zunder fort und trete ihn aus. Geschwind reiße ich mir das tropfnasse schwarze Gewand vom Körper und drücke es in den feinen Staub zwischen den zerplatzten Gewölbesteinen, damit es die Farbe von Sand annimmt. Dann lege ich mich hinter einem Haufen von Quadern auf den Boden. Zitternd und frierend zerre ich das staubige Gewand über mich, um mich darunter zu verbergen.
Gerade noch rechtzeitig!
Als Dom Tristão mit einer Fackel den Gang betritt, um nach mir zu suchen, wird es plötzlich hell. Durch einen schmalen Spalt zwischen Stoff und Stein beobachte ich ihn. Im Lichtschein bemerkt er den Steinhaufen im eingestürzten Korridor, bleibt am Eingang stehen und blickt unschlüssig in meine Richtung.
Hat er die Tropfen im Staub bemerkt, die ich mit meinem Gewand hinterlassen habe?
Ich halte die Luft an.
Irgendetwas Scharfkantiges drückt sich in mein rechtes Knie, doch ich verdränge den Schmerz. Nur nicht bewegen!
Obwohl das Regenwasser rauscht und das Gewitter tobt, kann ich seinen keuchenden Atem und seine Schritte auf dem mit Sand und Geröll bedeckten Boden hören. Ein Knirschen, langsam, bedächtig, aufreizend bedrohlich.
Er ist schon ganz nah.
Dann bleibt er plötzlich stehen. Hat er mich entdeckt?
»Dona Alessandra? Ich bin Dom Tristão vom Ordem de Cristo. Ich möchte gern mit Euch sprechen.«
· Yared ·
Kapitel 12
Auf dem Felsen Morija im Felsendom
16. Dhu’l Hijja 848, 19. Nisan 5205
Karfreitag, 26. März 1445
Kurz vor vier Uhr morgens
»Allmächtiger Gott meiner Väter!«, flüstere ich bestürzt, steige über das schmiedeeiserne Schmuckgitter der Kreuzfahrer und klettere auf den Felsen Morija.
In der Mitte des unebenen Felsens erkenne ich ein ausgemeißeltes Rechteck von der Größe der Bundeslade.
Es ist wahr!, denke ich, in der Seele aufgewühlt. Es ist also wirklich wahr! In dieser Vertiefung stand, von zwei goldenen Cherubim bewacht, die allerheiligste Lade …
»Yared?«, fragt Arslan besorgt. »Was ist denn?«
Ich antworte nicht. Mit brennendem Herzen knie ich nieder und berühre den geglätteten Untergrund des Felsens Morija, der vor zwei Jahrtausenden im Allerheiligsten des Tempels den Schrein Gottes umschlossen hat.
Jüdische und muslimische Legenden berichten von einer versiegelten Kammer unter dem Brunnen der Seelen, der Höhle unterhalb des Morijafelsens. In dem geheimnisumwitterten Labyrinth, von dem Flavius Josephus berichtet hat, soll noch immer ein Teil des Tempelschatzes verborgen sein – und die verschollene Bundeslade.
Nach einer Weile erhebe ich mich, zerre fröstelnd die tropfnasse Kleidung um mich, springe vom Felsen hinunter und begebe mich zur Treppe, die zum Brunnen der Seelen hinabführt. Es ist ein kleiner, kaum sieben Schritte langer Gebetsraum, in dessen Fußboden eine Marmorplatte eingelassen ist. Sie bedeckt den Brunnen, in dem sich nach islamischer Tradition die Seelen der Verstorbenen zum Gebet versammeln. In diesem Raum verehren die Muslime vier Leuchten des Judentums: Abraham, den Stammvater der Söhne Israels wie auch der Söhne Ismaels, König David, dessen Sohn König Salomo und den Propheten Elija, der nach jüdischem Glauben eines Tages wiederkehren wird, um das messianische Zeitalter anzukündigen.
Arslan, der mit verschränkten Armen lässig an einer Marmorsäule lehnt, blickt mir erwartungsvoll entgegen und drückt mir den Koran in die Hand, den er vorhin in der Gebetsnische gefunden hat.
»Allah ist mit dir, Yared«, ermutigt er mich. Er lächelt zuversichtlich und zitiert die Fatiha, die erste Sure des
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