Der Gottesschrein
entdeckt zu werden, ist zu groß.
Beunruhigt verharre ich im Schatten der Ruine.
Nichts als Stille.
Ich hebe einen Kieselstein auf und werfe ihn in den Gang hinter dem Portal, das schief in den Angeln hängt. Der Stein poltert über Fliesen, zwischen denen Grasbüschel wachsen, und bleibt irgendwo im finsteren Kreuzgang liegen.
Es ist so totenstill, dass mir das Blut in den Adern gefriert, als plötzlich die Glocke des Franziskanerklosters zu schlagen beginnt.
Viertel vor neun. Die Zeit drängt – in wenigen Minuten kehrt Dom Tristão aus der Grabeskirche zurück!
Ich durchquere das morsche Portal, husche drei, vier, fünf Schritte den Torgang entlang und erreiche den Kreuzgang, dessen von Schwalbennestern verzierte Arkaden mich ein wenig an die von Montecassino erinnern. Unter hohen Feigen- und Granatapfelbäumen tragen vier steinerne Löwen ein Brunnenbecken, dessen nachtschwarzes Wasser das Sternenlicht reflektiert. Die Zweige der verwilderten Rosen und Myrten wuchern bis in den Kreuzgang und verleihen dem verfallenen Gewölbe den Zauber der sagenhaften Gralsburg Munsalvaesche. Mit jedem Windhauch, der die Rosenbüsche wiegt, erwarte ich, dass die Templer, die Hüter des Grals, in feierlicher Prozession mit Wolfram von Eschenbachs ›Lapis ex coelis‹ aus den Schatten hervortreten.
Auf der einen Seite des Kreuzganges führt ein reich verziertes Portal in den Kapitelsaal, dessen hölzernes Dach schon vor Jahrzehnten eingestürzt ist. Auf den mit Disteln überwucherten Steinfliesen liegen geborstene Holzbalken, die in der nächtlichen Finsternis wie ein im Sturm gestrandetes Wrack aussehen.
Ich wende mich ab und gehe zum Tor der Kapelle.
Moos kriecht am Gemäuer empor. In dem kleinen Gebetsraum ist es so finster, dass ich nichts erkennen kann … oder doch? Schimmert dort nicht ein weißer Habit?
Mein Herz rast, meine Nackenhaare richten sich auf, und ich beginne zu zittern. Ich blinzele in die Finsternis. Doch niemand stürzt sich mit erhobenem Schwert auf mich. Nein, hier ist keine Menschenseele.
Der nächste Saal, der durch hohe Fenster vom Sternenlicht erhellt wird, war wohl einst das Refektorium. Ein großer Tisch beherrscht die Mitte des Raums. An der westlichen Wand erkenne ich …
Ich bleibe stehen. Was ist das?
Meine schweißfeuchten Finger zittern, als ich den Dolch ziehe.
Auf dem Fliesenboden entlang der Wand liegt etwas Dunkles. In der Finsternis kann ich nur einen unförmigen Umriss erkennen. Ich husche hinüber und stoße mit dem Fuß dagegen. Es ist weich und gibt unter der Berührung nach.
Eine Decke, die über trockene Grasbüschel gebreitet ist, daneben eine Truhe und zwei Taschen.
Einige Schritte weiter liegen noch zwei Schlafdecken.
Drei Christusritter!
Einer ist tot: Tayeb hat Don Rodrigo heute Morgen im Labyrinth getötet. Die anderen beiden, Dom Tristão und sein Gefährte, sind noch in der Grabeskirche.
Aufatmend stecke ich meinen Dolch ein. Die Zeit drängt!
In aller Eile hole ich mein Feuerzeug hervor, schlage einen Funken und entzünde die Kerze aus der Silberdose an meinem Gürtel. Dann durchwühle ich eine Truhe, zerre einen weißen Habit mit rotem Kreuz hervor, stopfe ihn zurück, wühle in den wenigen Habseligkeiten eines Mönchsritters und finde ganz unten in der Truhe, unter Gebetbuch und Schwert, einen dicken Folianten. Im Licht der Kerze blättere ich durch die Seiten.
Wolfram von Eschenbachs Parzival – auf Kastilisch.
Verwirrt starre ich das Buch an. Dann klappe ich den Buchdeckel auf und lese den Namen Don Rodrigo de Guzmán, geschrieben in einer kindlichen Krakelschrift.
Auf der ersten Seite entdecke ich eine Widmung:
Vaya con Dios, Rodrigo!
Dame confianza, te amo como si fueses mi proprio hijo.
No te abandono.
Dom Tristão de Castro
Anno Domini 1442
›Geh mit Gott‹, hat Dom Tristão geschrieben, der dem jungen Rodrigo den Gralsroman offenbar geschenkt hat. ›Vertrau mir, ich liebe dich wie meinen eigenen Sohn. Ich lasse dich nicht im Stich.‹
Die Mönchsritter des Christusordens entstammen doch dem portugiesischen Adel … Was tut ein junger Kastilier wie Rodrigo in einem Kreuzzugsorden, dessen Großmeister der Infante von Portugal ist? Warum schenkt Dom Tristão dem Jungen, der damals vielleicht dreizehn oder vierzehn war, den Parzival? Ist Dom Tristão der Mentor des jungen Don Rodrigo, der mit sechzehn oder siebzehn doch gerade erst die Gelübde von Armut, Keuschheit und Gehorsam geleistet haben kann?
Ich stopfe den Parzival zurück in
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