Der Gotteswahn
religiös gläubigen Menschen. Das steht offenbar im Einklang mit einer Ansicht, die ich mit vielen anderen vertrete: Wir brauchen Gott nicht, um gut zu sein – oder böse.
Wozu soll man gut sein, wenn es keinen Gott gibt?
So formuliert, hört sich die Frage niederträchtig an. Stellt ein religiöser Mensch sie mir in dieser Form (was häufig vorkommt), bin ich sofort versucht, sie mit folgender Gegenfrage zu beantworten: »Wollen Sie mir wirklich sagen, dass Sie sich nur deshalb bemühen, ein guter Mensch zu sein, weil Sie Gottes Zustimmung und Lohn erringen oder seine Ablehnung und Bestrafung vermeiden wollen? Das ist doch keine Moral, sondern nur Opportunismus, Einschleimerei und der verstohlene Blick zur großen Überwachungskamera im Himmel oder zur kleinen Abhörwanze in Ihrem Kopf, die jede Ihrer Bewegungen und sogar Ihre intimsten Gedanken aufzeichnet.« Oder, wie Einstein sagte: »Wenn die Menschen nur deshalb gut sind, weil sie sich vor Strafe fürchten und auf Belohnung hoffen, sind wir wirklich ein armseliger Haufen.« Michael Shermer bezeichnet dies in The Science of Good and Evil als das Ende einer jeden sinnvollen Diskussion. Wer meint, er würde ohne Gott zum »Räuber, Vergewaltiger und Mörder«, der entlarvt sich selbst als unmoralischer Mensch, »und wir wären gut beraten, um ihn einen großen Bogen zu machen«. Räumen wir dagegen ein, dass wir auch ohne göttliche Aufsicht weiterhin ein guter Mensch wären, versetzen wir unserer Behauptung, Gott sei nötig, um gut zu sein, einen tödlichen Schlag. Gewiss halten viele religiöse Menschen die Religion für ihr Motiv, sich gut zu verhalten, zumal wenn sie einer jener Glaubensrichtungen angehören, die persönliche Schuldgefühle systematisch ausnutzen.
In meinen Augen muss es um die Selbstachtung schon sehr schlecht bestellt sein, wenn man meint, der Glaube an Gott müsse nur aus der Welt verschwinden, und schon würden wir uns alle in gefühllose, egoistische Hedonisten verwandeln, die keine Freundlichkeit besitzen, keine Nächstenliebe, keine Großzügigkeit, nichts, was den Namen des Guten verdient. Vielfach wird Dostojewski eine solche Ansicht unterstellt, vor allem weil er seiner Romangestalt Iwan Karamasow Bemerkungen wie die folgende in den Mund legte:
[Iwan erklärte …] höchst feierlich, es gäbe auf der ganzen Erde entschieden nichts, was den Menschen veranlassen könnte, seinesgleichen zu lieben; solch ein Naturgesetz: »Der Mensch muss die Menschheit lieben« – existiere überhaupt nicht, und wenn es bis jetzt auf der Erde trotzdem Liebe gäbe, geschähe dies nicht nach einem Naturgesetz, sondern einzig darum, weil die Menschen noch an ihre Unsterblichkeit glaubten. Iwan Fjodorowitsch fügte bei der Gelegenheit noch en parenthese hinzu, dass gerade darin das ganze Naturgesetz bestünde, sodass, wenn man im Menschen den Glauben an seine Unsterblichkeit vernichtete, in ihm nicht nur die Liebe, sondern auch überhaupt jede lebendige Kraft zur Fortsetzung des irdischen Lebens versiegen würde. Und nicht nur das: es würde dann auch kein Schamgefühl mehr geben, sagte er, alles würde dann erlaubt sein, sogar die Menschenfresserei. Aber auch damit war’s noch nicht genug: er schloss mit der Behauptung, dass für jede Privatperson, wie hier zum Beispiel ich, die weder an Gott noch an ihre eigene Unsterblichkeit glaubt, das sittliche Gesetz der Natur sich in das volle Gegenteil des früheren religiösen Gesetzes verwandeln müsse, und dass der Egoismus, sogar bis zum Verbrechen, dem Menschen nicht nur erlaubt sein, sondern für ihn als unvermeidlicher, vernünftigster und womöglich edelster Ausweg in seiner Lage anerkannt werden müsse. 97
Vielleicht bin ich naiv, aber ich neige, was die Natur des Menschen angeht, zu einer weniger zynischen Sichtweise als Iwan Karamasow. Brauchen wir wirklich eine Überwachung – durch Gott oder unsere Mitmenschen –, damit wir uns nicht egoistisch und verbrecherisch verhalten? Ich möchte sehr gern glauben, dass ich eine solche Aufsicht nicht brauche – und Sie, lieber Leser, auch nicht. Andererseits schwächt es unsere Zuversicht, wenn wir hören, welche ernüchternden Erfahrungen Steven Pinker während eines Polizistenstreiks im kanadischen Montreal machte. In seinem Buch The Blank Slate (Das unbeschriebene Blatt) schreibt er:
Als Halbwüchsiger war ich in dem als so friedlich gepriesenen Kanada während der romantischen 1960er Jahre ein glühender Anhänger des Bakunin’schen
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