Der Gotteswahn
in Verbindung gebracht wird, obwohl man sie auch anders ableiten kann), könnte man als absolutistisch bezeichnen. Gut ist gut und schlecht ist schlecht, und wir brauchen uns nicht mit Einzelfallentscheidungen herumzuschlagen, beispielsweise wenn jemand leidet. Mein Religionsvertreter würde behaupten, nur die Religion könne eine Grundlage für Entscheidungen über Richtig und Falsch liefern.
Manche Philosophen – der bekannteste unter ihnen war Kant – haben versucht, eine absolute Moral aus nichtreligiösen Quellen abzuleiten. Obwohl Kant selbst ein religiöser Mensch war, was sich zu seiner Zeit fast nicht vermeiden ließ, [40] bemühte er sich darum, eine Ethik nicht auf Gott, sondern auf die Pflicht um der Pflicht willen zu gründen. Sein berühmter kategorischer Imperativ (in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ) schreibt uns vor: »Ich soll niemals anders verfahren, als so, dass ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.« Das funktioniert beispielsweise für das Lügen sehr gut.
Stellen wir uns einmal eine Welt vor, in der die Menschen aus Prinzip lügen, in der Lügen also als etwas Gutes, Moralisches gelten. In einer solchen Welt würde das Lügen jeden Sinn verlieren, denn schon seine Definition setzt voraus, dass die Wahrheit unterstellt wird. Wenn ein ethisches Prinzip etwas ist, von dem wir uns wünschen, dass alle es befolgen, kann Lügen kein ethisches Prinzip sein, denn es würde sich in der Sinnlosigkeit auflösen. Lügen als Lebensregel ist von seinem Wesen her instabil. Allgemeiner gesprochen, kann Egoismus oder ungezügelte Ausnutzung des guten Willens anderer für mich als einzelnes, egoistisches Individuum funktionieren und mir persönliche Befriedigung verschaffen. Aber ich kann mir nicht wünschen, dass alle sich ein egoistisches Parasitenverhalten als ethisches Prinzip zu eigen machen, und sei es nur, weil es dann niemanden mehr gäbe, den ich ausnutzen könnte.
Der Kant’sche Imperativ funktioniert offensichtlich für die Wahrheitsliebe und einige andere Fälle. Wie er sich auf die Ethik im Allgemeinen erweitern lässt, ist nicht ohne weiteres zu erkennen. Trotz Kant ist es verlockend, sich meinem hypothetischen Religionsvertreter anzuschließen und zu behaupten, dass eine absolute Moral sich in der Regel auf Religion gründe. Ist es immer falsch, einen unheilbar kranken Patienten auf seinen eigenen Wunsch hin aus seinem Elend zu befreien? Ist es immer falsch, einen Angehörigen des eigenen Geschlechts zu lieben? Ist es immer falsch, einen Embryo zu töten? Manche Menschen glauben das und führen dafür absolute Gründe an. Auf Argumente oder Diskussionen lassen sie sich nicht ein. Wer anderer Meinung ist, hat es verdient, erschossen zu werden – natürlich nicht buchstäblich, sondern nur metaphorisch (mit Ausnahme einiger Ärzte in amerikanischen Abtreibungskliniken – darüber mehr im nächsten Kapitel). Doch zum Glück muss Moral nicht absolut sein.
Die Fachleute für Gedanken über Richtig und Falsch sind die Moralphilosophen. Und die sind sich darüber einig, dass »ethische Vorschriften zwar nicht unbedingt mit der Vernunft konstruiert sein müssen, dass es aber möglich sein sollte, sie mit der Vernunft zu verteidigen«, wie Robert Hinde es sehr prägnant formuliert hat. 99 Man kann Moralphilosophen auf recht unterschiedliche Weise klassifizieren, doch verläuft die große Trennlinie nach heutiger Terminologie zwischen Deontologen (zu ihnen gehörte Kant) und Konsequentialisten (darunter »Utilitaristen« wie Jeremy Bentham, 1748–1832). »Deontologie« ist ein modischer Name für die Überzeugung, dass Moral darin besteht, Regeln zu befolgen. Der Begriff, der sich vom griechischen Wort für »das Bindende« ableitet, bedeutet wörtlich »Pflichtenlehre«. Deontologie ist nicht genau das Gleiche wie moralischer Absolutismus, aber in einem Buch über Religion ist es in den meisten Zusammenhängen nicht nötig, auf den Unterschieden herumzureiten. Nach Ansicht der Absolutisten gibt es absolute Maßstäbe für Richtig und Falsch, Vorschriften, die ihre Berechtigung nicht aus den Folgen beziehen. Konsequentialisten sind pragmatischer: Nach ihrer Ansicht sollte man die Frage, ob eine Handlung ethisch richtig ist, nach den Folgen beurteilen. Eine Form des Konsequentialismus ist der Utilitarismus, eine philosophische Richtung, die mit Bentham, seinem Freund James Mill (1773–1836) und dessen Sohn John Stuart Mill (1806–1873) in Verbindung
Weitere Kostenlose Bücher