Der Gotteswahn
gebracht wird. Der Utilitarismus wird häufig unter einem leider sehr ungenauen Schlagwort von Bentham zusammengefasst: »Die Grundlage für Moral und Gesetzgebung ist das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl von Menschen.«
Absolutismus leitet sich nicht immer von einer Religion ab. Doch absolutistische Ethik nicht religiös, sondern anders zu begründen, ist schwierig. Die einzige Alternative, die ich mir vorstellen kann, ist – insbesondere in Kriegszeiten – der Patriotismus. Der angesehene spanische Filmregisseur Luis Buñuel sagte einmal: »Gott und Vaterland sind ein unschlagbares Team; bei Unterdrückung und Blutvergießen brechen sie alle Rekorde.« Anwerbungsoffiziere appellieren bei ihren Opfern eindringlich an das patriotische Pflichtgefühl. Im Ersten Weltkrieg verteilten Frauen an junge Männer, die keine Uniform trugen, weiße Federn:
Oh, we don’t want to lose you,
But we think you ought to go,
For your King and your country
Both need you so.
[Ach, wir woll’n euch nicht verlieren,
Trotzdem sollt ins Feld ihr zieh’n.
Denn man braucht euch dort. Vor König
Und Vaterland dürft ihr nicht flieh’n.]
Kriegsdienstverweigerer, selbst solche aus Feindesland, wurden verachtet, weil Patriotismus als absoluter Wert galt. Einen absoluteren Maßstab als den Slogan der Berufssoldaten, »Right or Wrong, My Country« (»Ob richtig oder falsch, es ist mein Land«), kann man sich kaum vorstellen. Er verpflichtet dazu, jeden zu töten, den die Politiker irgendwann in Zukunft einmal zum Feind erklären. Die politische Entscheidung, in den Krieg zu ziehen, wird vielleicht von konsequentialistischen Überlegungen beeinflusst, doch ist der Krieg erst einmal erklärt, so gewinnt der Patriotismus die Oberhand, und zwar mit einer Macht, wie man sie ansonsten außerhalb der Religion nicht erleben kann. Wer sich als Soldat von seinen eigenen konsequentialistisch-ethischen Gedanken leiten lässt und nicht mehr mitmacht, findet sich wahrscheinlich vor einem Kriegsgericht wieder, wird unter Umständen sogar hingerichtet.
Der Ausgangspunkt für diesen Ausflug in die Moralphilosophie war die hypothetische religiöse Behauptung, eine Moral ohne Gott sei relativ und beliebig. Wenn man einmal von Kant und anderen klugen Moralphilosophen absieht und auch dem patriotischen Eifer die gebührende Anerkennung zollt, beziehen wir absolute Moral meist aus irgendeinem heiligen Buch; dieses wird so interpretiert, als gehe seine Autorität weit über das hinaus, was historisch zu rechtfertigen ist.
Tatsächlich lassen die Anhänger einer aus den Schriften bezogenen Autorität deprimierend wenig Neugier auf die (meist höchst zweifelhaften) historischen Ursprünge ihrer heiligen Bücher erkennen. Wie ich im nächsten Kapitel nachweisen werde, trifft die Behauptung solcher Menschen, sie bezögen ihre Ethik aus heiligen Schriften, in der Praxis ohnehin nicht zu. Und das ist, wie jeder bei genauerem Nachdenken selbst zugeben sollte, auch gut so.
7. Das »gute« Buch und der wandelbare ethische Zeitgeist
Die Politik hat Tausende hingemetzelt, die Religion Zehntausende.
Sean O’Casey
Die Heilige Schrift kann auf zweierlei Weise zur Quelle von Ethik und Lebensmaximen werden: durch direkte Anweisungen – etwa durch die Zehn Gebote, die in den Niederungen und Kulturkämpfen der nordamerikanischen Provinz zum Gegenstand erbitterter Streitigkeiten wurden – oder durch den Vorbildcharakter Gottes oder anderer biblischer Gestalten. Hält man sich mit religiösem Eifer daran (das Attribut gebrauche ich hier metaphorisch, aber durchaus auch mit Blick auf seine wörtliche Bedeutung), dann führen beide Wege zu einem ethischen System, das jeder zivilisierte moderne Mensch, ob religiös oder nicht, widerwärtig finden würde – freundlicher kann ich es nicht formulieren.
Doch ich will fair sein: Die Bibel ist in großen Teilen nicht systematisch böse, sondern einfach nur grotesk. Nichts anderes erwartet man von einer chaotisch zusammengestoppelten Anthologie zusammenhangloser Schriften, die von Hunderten anonymer Autoren, Herausgebern und Kopisten verfasst, umgearbeitet, übersetzt, verfälscht und »verbessert« wurden, von Personen, die wir nicht kennen, die sich meist auch untereinander nicht kannten und deren Lebenszeiten sich über neun Jahrhunderte erstrecken. 100 Das erklärt wahrscheinlich schon einen Teil der Ungereimtheiten in der Bibel. Doch leider halten uns religiöse Eiferer genau dieses seltsame
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