Der Gotteswahn
Sprichwort. Da es eine Hauptthese dieses Kapitels ist, dass wir unsere Moral nicht aus der Heiligen Schrift beziehen und auch nicht beziehen sollten, muss Jesus als Beispiel für genau diese These gewürdigt werden.
Allerdings vertrat Jesus in puncto Familie nicht gerade die Werte, die wir in den Mittelpunkt stellen würden. Seiner eigenen Mutter gegenüber war er kurz angebunden, bis hin zur Brüskierung, und seine Jünger forderte er auf, ihre Familien zu verlassen und ihm nachzufolgen. »Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein« (Lukas 14,26). Die amerikanische Komikerin Julia Sweeney brachte ihr Befremden darüber in ihrem Solo-Bühnenprogramm Letting Go of God (»Von Gott will ich lassen«) zum Ausdruck: 105 »Tun das nicht die Sekten? Einen dazu veranlassen, dass man sich von der Familie trennt, damit sie einen besser indoktrinieren können?« 106
Trotz seiner fragwürdigen Wertvorstellungen in Sachen Familie waren die ethischen Lehren Jesu – wenigstens im Vergleich zum ethischen Katastrophengebiet des Alten Testaments – bewundernswert. Indes, auch im Neuen Testament gibt es Prinzipien, die kein anständiger Mensch unterstützen sollte. Damit meine ich besonders die zentrale Doktrin des Christentums: »Sühne« für die »Erbsünde«. Diese Lehre, ein Kernstück der neutestamentlichen Theologie, ist ethisch fast ebenso anstößig wie die Geschichte von Abraham, der sich anschickt, Isaak zu grillen; dieser ähnelt sie stark, und das ist, wie Geza Vermes in The Changing Faces of Jesus (»Die wechselnden Gesichter Jesu«) deutlich macht, kein Zufall. Die Vorstellung von der Erbsünde entspringt unmittelbar aus dem alttestamentlichen Mythos von Adam und Eva. Ihre Sünde, die Frucht eines verbotenen Baumes zu essen, erscheint so geringfügig, dass sie nicht mehr als eine Ermahnung verdient. Aber die symbolische Bedeutung der Frucht (die Erkenntnis von Gut und Böse, was sich in der praktischen Erkenntnis äußerte, dass sie nackt waren) reichte aus, um einen kleinen Obstdiebstahl zur Mutter und zum Vater aller Sünden zu machen. Das Paar und seine sämtlichen Nachkommen wurden für alle Zeiten aus dem Garten Eden verbannt, das Geschenk des ewigen Lebens wurde ihnen genommen, und alle folgenden Generationen waren zu Mühen und Schmerzen auf dem Acker und beim Gebären von Kindern verdammt.
So weit, so rachsüchtig – eins zu null für das Alte Testament. In der neutestamentlichen Theologie indes kommt als Krönung noch eine neue Ungerechtigkeit hinzu: ein neuer Sadomasochismus, über dessen Boshaftigkeit selbst das Alte Testament kaum hinausgeht. Bei genauerem Nachdenken ist es wirklich bemerkenswert, dass eine Religion ein Folter- und Hinrichtungsinstrument zum heiligen Symbol macht, das häufig an Ketten um den Hals getragen wird. Lenny Bruce bemerkte ganz richtig: »Wäre Jesus vor zwanzig Jahren getötet worden, dann würden die katholischen Schulkinder heute kein Kreuz, sondern einen kleinen elektrischen Stuhl um den Hals tragen.« Noch schlimmer ist allerdings die dahinterstehende Theologie und Bestrafungstheorie. Die Sünde von Adam und Eva soll in der männlichen Linie weitervererbt worden sein – mit dem Samen, wie Augustinus es formulierte. Was ist das für eine Moralphilosophie, die jedes Kind schon vor seiner Geburt dazu verurteilt, die Sünden eines entfernten Vorfahren zu erben?
Auf Augustinus, der sich zu Recht als eine Art Autorität in Sachen Sünde betrachtete, geht übrigens auch der Begriff »Erbsünde« zurück. Vorher sprach man von der »Sünde der Vorfahren«. Augustinus’ Äußerungen und Diskussionen machen für mich überdeutlich, welch ungesunde Versessenheit auf die Sünde bei frühchristlichen Theologen herrschte. Sie hätten ihre Schriften und Predigten darauf verwenden können, über den sternenübersäten Himmel zu jubeln oder über Berge und grüne Wälder, Meere und den Chor der Vogelstimmen. Diese werden zwar gelegentlich erwähnt, aber das überwältigende christliche Schwergewicht liegt auf der Sünde – Sünde, Sünde, Sünde und nochmal Sünde. Wie kann man sein Leben von einer derart niederträchtigen Hauptbeschäftigung beherrschen lassen! Sam Harris schreibt mit großartigem Sarkasmus in Letter to a Christian Nation: »Es scheint Ihre Hauptsorge zu sein, der Schöpfer des Universums könnte Anstoß an irgendetwas nehmen, was die Menschen tun, wenn sie
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