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Der Gotteswahn

Der Gotteswahn

Titel: Der Gotteswahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dawkins
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Christen machen sich nur in den seltensten Fällen klar, dass viele der moralischen Vorgaben für andere, die sowohl im Alten als auch im Neuen Testament vertreten werden, ursprünglich nur für eine eng begrenzte Gruppe gedacht waren. »Liebe deinen Nächsten« bedeutete nicht das, was wir heute darunter verstehen. Es hieß nur »Liebe einen anderen Juden«. Diesen springenden Punkt macht der amerikanische Arzt und Evolutionsanthropologe John Hartung in einem bemerkenswerten Aufsatz über die Evolution und die biblische Geschichte der Gruppenethik auf verheerende Weise deutlich. Dabei hob er auch die Kehrseite gebührend hervor: die Gruppenfeindseligkeit. 109

Liebe deinen Nächsten

    John Hartungs schwarzer Humor ist von Anfang an nicht zu übersehen. So berichtet er zu Beginn über eine Initiative der Southern Baptist Church, die herausfinden wollte, wie viele Bewohner Alabamas sich in der Hölle befinden. Nach Berichten in der New York Times und in Newsday gelangte man zu einer Zahl von 1,86 Millionen. Diese Schätzung erfolgte mithilfe einer geheimen Gewichtungsformel, wonach Methodisten mit größerer Wahrscheinlichkeit errettet werden als Katholiken, während »praktisch alle, die keiner kirchlichen Gemeinschaft angehörten, zu den verlorenen Seelen gezählt wurden«. Die übernatürliche Selbstgefälligkeit solcher Menschen spiegelt sich heute in den verschiedenen »Entrückungs«-Websites wider, deren Autoren es stets für völlig selbstverständlich halten, dass sie zu denen gehören, die in den Himmel »verschwinden«, wenn die »Endzeit« kommt. Das folgende typische Beispiel stammt vom Autor der Website »Rapture Ready«, einem besonders widerwärtig-scheinheiligen Exemplar dieses Genres: »Wenn die Entrückung stattfinden sollte und ich dann nicht mehr da bin, wird es notwendig sein, dass Bedrängnisheilige diese Website spiegeln oder finanziell unterstützen.«*
    Nach [45] Hartungs Interpretation bietet die Bibel keine Grundlage für eine solch blasierte Selbstgefälligkeit der Christen. Jesus beschränkte seine Gruppe der Erretteten streng auf die Juden; in dieser Hinsicht stand er in der alttestamentlichen Tradition – eine andere kannte er nicht. Wie Hartung eindeutig nachweist, sollte »Du sollst nicht töten« ursprünglich nicht das bedeuten, was es für uns heute aussagt. Es hieß vielmehr ganz gezielt: Du sollst keine Juden töten. Die gleiche Ausschließlichkeit beinhalten alle Gebote, in denen von »deinem Nächsten« oder »deinem Nachbar« die Rede ist. »Nachbar« bedeutet Mitjude. Moses Maimonides, ein hoch angesehener Rabbiner und Arzt aus dem zwölften Jahrhundert, erläutert die Bedeutung des Satzes »Du sollst nicht töten« folgendermaßen: »Wer auch nur einen einzigen Israeliten hinmetzelt, verstößt gegen ein Gebot, denn die Heilige Schrift sagt: Du sollst nicht morden. Wer aus freiem Willen in Gegenwart von Zeugen mordet, soll zum Tod durch das Schwert verurteilt werden. Es bedarf keiner besonderen Erwähnung, dass jemand nicht zum Tod verurteilt wird, wenn er einen Heiden tötet.« Natürlich bedarf das keiner besonderen Erwähnung!
    In einem ähnlichen Sinn zitiert Hartung den Sanhedrin, das oberste jüdische Gericht, das vom Hohepriester geleitet wird. Dieser sprach einen Mann frei, der angeblich versehentlich einen Israeliten umgebracht hatte, obwohl er eigentlich ein Tier oder einen Heiden töten wollte. Dieses ärgerliche kleine ethische Dilemma wirft eine interessante Frage auf. Was ist, wenn wir einen Stein in eine Gruppe aus neun Heiden und einem Israeliten werfen und das Pech haben, dass der Israelit stirbt? Hm, schwierig. Aber die Antwort liegt auf der Hand. »Dann kann man seine Unschuld aus der Tatsache ableiten, dass die Mehrzahl Heiden waren.«
    Hartung bedient sich in vielen Fällen der gleichen Bibelzitate über die Eroberung des Gelobten Landes durch Mose, Josua und die Richter, die auch ich in diesem Kapitel angeführt habe. Ich habe vorsichtshalber eingeräumt, dass religiöse Menschen heute nicht mehr biblisch denken. Für mich ist damit bewiesen, dass unsere Moral aus anderen Quellen stammt, ganz gleich, ob wir religiös sind oder nicht. Und diese andere Quelle, wie sie auch aussehen mag, steht uns allen offen, ob mit Religion oder ohne sie.
    Hartung dagegen berichtet über eine erschreckende Untersuchung des israelischen Psychologen George Tamarin. Dieser legte über tausend israelischen Schulkindern im Alter von acht bis vierzehn Jahren den Bericht über

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