Der Gotteswahn
die Schlacht von Jericho aus dem Buch Josua vor:
Josua sprach zum Volk: Macht ein Kriegsgeschrei! Denn der HERR hat euch die Stadt gegeben. Aber diese Stadt und alles, was darin ist, soll dem Bann des HERRN verfallen. […] Aber alles Silber und Gold samt dem kupfernen und eisernen Gerät soll dem HERRN geheiligt sein, dass es zum Schatz des HERRN komme. […] Und sie vollstreckten den Bann an allem, was in der Stadt war, mit der Schärfe des Schwerts, an Mann und Weib, jung und alt, Rindern, Schafen und Eseln. […] Aber die Stadt verbrannten sie mit Feuer und alles, was darin war. Nur das Silber und Gold und die kupfernen und eisernen Geräte taten sie zum Schatz in das Haus des HERRN. (Josua 6,16–24)
Dann stellte Tamarin den Schulkindern eine einfache ethische Frage: »Haben Josua und die Israeliten nach eurer Ansicht richtig gehandelt oder nicht?« Sie hatten die Wahl zwischen A (völlige Zustimmung), B (teilweise Zustimmung) und C (völlige Ablehnung). Das Ergebnis war eine starke Polarisierung: 66 Prozent stimmten völlig zu, 26 Prozent äußerten völlige Ablehnung, und nur recht wenige, nämlich acht Prozent, standen mit ihrer teilweisen Zustimmung in der Mitte. Die folgenden drei Antworten sind typisch für die Gruppe A, die völlig zustimmte:
Meiner Meinung nach haben Josua und die Kinder Israel richtig gehandelt, und zwar aus folgenden Gründen: Gott hat ihnen dieses Land versprochen und ihnen erlaubt, es zu erobern. Hätten sie nicht so gehandelt und niemanden getötet, hätte die Gefahr bestanden, dass die Kinder Israel von den Gojim assimiliert worden wären.
Nach meiner Ansicht hatte Josua recht, dass er es getan hat. Ein Grund ist, dass Gott ihm befohlen hat, das Volk auszurotten, damit die Stämme Israel nicht von ihm aufgesogen werden und seine schlechten Sitten lernen.
Josua hat etwas Gutes getan, denn die Menschen, die in dem Land wohnten, hatten eine andere Religion, und als Josua sie tötete, tilgte er ihre Religion von der Erde.
In allen Fällen wird Josuas Völkermord mit religiösen Gründen gerechtfertigt. Selbst in der Kategorie C derer, die völlige Ablehnung äußerten, wurden in einigen Fällen zweideutige religiöse Gründe genannt. Ein Mädchen lehnte beispielsweise die Eroberung Jerichos durch Josua ab, weil er die Stadt zu diesem Zweck hätte betreten müssen:
Ich halte das für schlecht, denn Araber sind unrein und wenn man unreines Land betritt, wird man auch unrein und gerät unter ihren Fluch.
Zwei andere waren nur deshalb nicht einverstanden, weil Josua alles zerstörte, auch Tiere und Eigentum, statt einen Teil davon als Beute für die Israeliten aufzusparen:
Ich finde, Josua hat nicht richtig gehandelt; die hätten das Vieh für sich selbst aufheben können.
Ich finde, Josua hat nicht richtig gehandelt, denn er hätte das Eigentum von Jericho übrig lassen können. Wenn er das Eigentum nicht zerstört hätte, hätte es den Israeliten gehört.
Auch in dieser Frage lässt der kluge Maimonides keinen Zweifel an seinem Standpunkt aufkommen: »Die sieben Völker zu zerstören, ist ein positiver Befehl, denn es wird gesagt: Du sollst sie völlig zerstören. Wenn man die, über die man die Macht gewinnt, nicht dem Tode anheim gibt, verstößt man gegen ein negatives Gebot, denn es heißt: Du sollst nichts , das Odem hat , am Leben lassen.«
Im Gegensatz zu Maimonides waren die Kinder in Tamarins Experiment noch jung und eigentlich unschuldig. Die grausamen Ansichten, die sie zum Ausdruck brachten, stammten vermutlich von ihren Eltern oder aus dem kulturellen Umfeld, in dem sie aufgewachsen waren. Nach meiner Vermutung ist es durchaus nicht unwahrscheinlich, dass Palästinenserkinder, die in demselben kriegsgeschüttelten Land groß geworden sind, entsprechende Meinungen mit umgekehrter Zielrichtung geäußert hätten. Solche Überlegungen erfüllen mich mit Verzweiflung. Offenbar zeigt sich hier, wie ungeheuer stark die Religion und insbesondere die religiöse Erziehung von Kindern dazu beiträgt, die Menschen zu spalten und historische Feindschaften oder überkommene Rachegelüste zu nähren. Ich muss noch einmal darauf hinweisen, dass zwei der drei repräsentativen Zitate aus Tamarins Gruppe A die Übel der Assimilation erwähnen, während die dritte betont, man müsse Menschen töten, um ihre Religion auszurotten.
Das gleiche Experiment machte Tamarin auch mit einer faszinierenden Kontrollgruppe. Eine andere Gruppe von 168 israelischen Kindern erhielt
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