Der Gotteswahn
genau den gleichen Text aus dem Buch Josua, nur war hier der Name »Josua« durch »General Lin« und »Israel« durch »ein chinesisches Königreich vor 3000 Jahren« ersetzt. Jetzt ergab das Experiment das umgekehrte Ergebnis. Nur sieben Prozent hießen das Verhalten des Generals Lin gut, 75 Prozent lehnten es ab. Mit anderen Worten: Spielte die Loyalität zum Judentum für die Berechnung keine Rolle, dann schlossen sich die Kinder in ihrer Mehrheit den moralischen Beurteilungen an, für die sich die meisten modernen Menschen entscheiden würden. Josuas Verhalten war barbarischer Völkermord. Aber aus religiöser Sicht sieht alles ganz anders aus. Und der Unterschied macht sich schon in jungen Jahren bemerkbar. Ob Kinder den Völkermord verurteilen oder gutheißen, hängt einzig von der Religion ab.
In der zweiten Hälfte seines Aufsatzes wendet sich Hartung dem Neuen Testament zu. Kurz zusammengefasst, lautet seine These: Jesus war ein Anhänger der gleichen Gruppenmoral – in Verbindung mit Feindseligkeit gegenüber Außenstehenden –, die im Alten Testament als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Jesus war ein loyaler Jude. Die Idee, den jüdischen Gott auch den Ungläubigen nahezubringen, wurde erst von Paulus erfunden. Hartung formuliert es krasser, als ich es wagen würde: »Jesus hätte sich im Grab herumgedreht, wenn er gewusst hätte, dass Paulus den Schweinen seine Lehre predigte.«
Seinen Spaß hat Hartung mit dem Buch der Offenbarung, das sicherlich eines der seltsamsten Bücher der Bibel ist. Es wurde angeblich von Johannes verfasst, und Ken’s Guide to the Bible meint dazu sehr plastisch: »Wenn seine Briefe so wirken, als hätte Johannes Hasch geraucht, dann hat er die Offenbarung unter dem Einfluss von LSD geschrieben.« 110 Hartung macht auf zwei Verse in der Offenbarung aufmerksam, in denen die Zahl der »Versiegelten« (worunter manche Sekten, beispielsweise die Zeugen Jehovas, die »Erretteten« verstehen) auf 144000 beschränkt ist. Hartung geht es vor allem darum, dass es ausschließlich Juden sein müssen: 12000 aus jedem der zwölf Stämme. Ken Smith geht noch einen Schritt weiter und weist darauf hin, dass die 144000 Auserwählten »sich nicht mit Frauen besudelten«, was vermutlich bedeutet, dass zu den Auserwählten auch keine Frauen gehören können. Nun ja, so etwas hätte man eigentlich auch erwartet.
In Hartungs unterhaltsamem Aufsatz steht noch viel mehr. Ich möchte ihn einfach noch einmal empfehlen und den Inhalt in einem Zitat zusammenfassen:
Die Bibel ist ein Regelwerk der Gruppenmoral mit Anweisungen zum Völkermord, zur Versklavung anderer Gruppen und zur Weltherrschaft. Böse ist die Bibel aber nicht wegen ihrer Ziele und noch nicht einmal wegen der Verherrlichung von Mord, Grausamkeit und Vergewaltigung. So etwas findet man in vielen antiken Werken, unter anderem in der Ilias, den altisländischen Sagas, den Sagen der alten Syrer und alten Inschriften der Maya. Aber niemand verkauft die Ilias als Fundament unserer Ethik. Genau hier liegt das Problem. Die Bibel wird als Leitfaden für die Lebensführung angepriesen und gekauft. Und sie ist bei Weitem der größte Weltbestseller aller Zeiten.
Damit nun nicht der Eindruck entsteht, das traditionelle Judentum nehme in dieser Hinsicht unter den Religionen eine einzigartige Stellung ein, brauchen wir nur eine selbstbewusste Strophe aus einem Kirchenlied von Isaac Watts (1674–1748) anzuschauen:
Lord, I ascribe it to Thy Grace,
And not to chance, as others do,
That I was born of Christian Race
And not a Heathen or a Jew.
[Herr, Deiner Gnade ist’s zu danken,
Und nicht wie bei andern auf Zufall beruht,
Dass ich als Christ geboren wurde
Und nicht als Heide oder Jud’.]
Das Rätselhafte an diesem Vers ist für mich nicht die Ausschließlichkeit als solche, sondern die Logik. Viele Menschen werden tatsächlich nicht ins Christentum, sondern in andere Religionen hineingeboren – wie also entscheidet Gott, welchen Menschen in Zukunft eine solche bevorzugte Geburt zuteil wird? Warum begünstigt er gerade Isaac Watts und die Personen, die das Lied nach seiner Vorstellung singen sollten? Und welcher Art war diese gottgefällige Einheit, bevor Isaac Watts überhaupt gezeugt wurde?
Hier begeben wir uns in allzu tiefe Gewässer, aber für einen theologisch eingestellten Geist sind sie vielleicht gar nicht so tief. Jedenfalls erinnert das Kirchenlied von Isaac Watts an die drei täglichen Gebete, die orthodoxe und
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