Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gotteswahn

Der Gotteswahn

Titel: Der Gotteswahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dawkins
Vom Netzwerk:
mit Wild, ohne lange darüber nachzudenken? Man erschießt es. Nicht um es zu essen. Nicht aus Selbstverteidigung. Einfach als »Sport«. Heute herrscht ein anderer Zeitgeist. Zugegeben: Auch heute noch erschießen reiche, gelangweilte »Sportler« in Afrika wilde Tiere von einem sicheren Land-Rover aus und nehmen die ausgestopften Köpfe mit nach Hause. Aber dafür bezahlen sie Unsummen, und gleichzeitig werden sie vielfach verachtet. Natur- und Umweltschutz sind mittlerweile allgemein anerkannte Werte und haben heute die gleiche ethische Stellung, die früher der Einhaltung des Sabbats und dem Meiden von Götzenbildern zugestanden wurden.
    Die »Swinging Sixties« gelten heute als legendäre Zeit einer modernen Liberalität. Aber noch zu Beginn jenes Jahrzehnts konnte ein Klägeranwalt in einem Prozess, in dem es um die Obszönität von D.H. Lawrences Roman Lady Chatterley ging, die Geschworenen fragen: »Wären Sie damit einverstanden, dass Ihre kleinen Söhne und kleinen Töchter – denn Mädchen können ebenso lesen wie Jungen [ist es wirklich zu glauben , dass er das gesagt hat?] – dieses Buch lesen? Würden Sie dieses Buch in Ihrem Haus herumliegen lassen? Ist es ein Buch, von dem Sie sich wünschen würden, dass Ihre Frau oder Ihre Diener es lesen?« Die letzte rhetorische Frage macht auf besonders verblüffende Weise deutlich, wie schnell sich der Zeitgeist ändert.
    Die amerikanische Invasion im Irak wurde vor allem wegen der Opfer unter der Zivilbevölkerung allgemein verurteilt, und doch ist die Zahl dieser Opfer um etliche Größenordnungen geringer als die vergleichbaren Zahlen aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Maßstab dafür, was ethisch hinnehmbar ist, scheint sich ständig zu verschieben. Donald Rumsfeld, dessen Äußerungen heute so widerwärtig und kaltschnäuzig klingen, wäre mit den gleichen Worten während des Zweiten Weltkrieges als Liberaler mit blutendem Herzen durchgegangen. Irgendetwas hat sich in den dazwischenliegenden Jahrzehnten verändert. Es hat sich in uns allen verändert, und diese Veränderung hat nichts mit Religion zu tun. Wenn überhaupt, hat sie sich nicht wegen, sondern trotz der Religion abgespielt.
    Die Verschiebung verläuft in einer erkennbaren, immer gleichen Richtung, und die meisten von uns sehen darin eine Verbesserung. Selbst Adolf Hitler, der die Grenzen des Bösen nach allgemeiner Ansicht in bis dahin unerforschtes Gelände ausweitete, wäre zur Zeit eines Caligula oder Dschingis Khan nicht sonderlich aufgefallen. Hitler ermordete zweifellos mehr Menschen als Dschingis Khan, aber ihm stand auch die Technologie des 20. Jahrhunderts zur Verfügung. Und bezog selbst Hitler jemals seine größte Freude daraus, »die Nächsten und Liebsten seiner Opfer in Tränen gebadet zu sehen«, wie Dschingis Khan es von sich behauptete? Wir beurteilen Hitlers Bosheit nach den Maßstäben von heute, und der ethische Zeitgeist hat sich seit Caligula ebenso weiterentwickelt wie die Technologie. Besonders böse erscheint Hitler nur nach den eher gutartigen Maßstäben unserer Zeit.
    Zu meinen eigenen Lebzeiten haben zahlreiche Menschen gedankenlos abschätzige Spitznamen und nationale Klischees verwendet: »Spaghettifresser«, »Kanake«, »Iwan«, »Vandale«, »Itzig«, »Nigger«, »Japs«, »Bimbo«. Ich will nicht behaupten, dass solche Worte heute verschwunden wären, aber in besseren Kreisen sind sie allgemein verpönt. An dem Wort »negro« , das ursprünglich keine Beleidigung darstellen sollte, kann man heute ablesen, wann ein englischer Prosatext entstanden ist. Ganz allgemein sind Vorurteile aufschlussreiche Hinweise auf die Entstehungszeit eines Schriftstücks. A. C. Bouquet, ein angesehener Theologe aus Cambridge, konnte zu seiner Zeit das Kapitel über den Islam in seinem Werk Comparative Theology mit folgenden Worten einleiten: »Der Semit ist von Natur aus kein Monotheist, wie man es Mitte des 19. Jahrhunderts annahm. Er ist ein Animist.« Die Versessenheit auf Rassen (im Gegensatz zur Kultur) und die aufschlussreiche Verwendung des Singulars (»Der Semit […] Er ist ein Animist«), mit der eine ganze Vielfalt von Menschen auf einen Typus reduziert wird, waren damals keineswegs anstößig. Aber sie sind ein weiterer kleiner Hinweis auf den sich wandelnden Zeitgeist. Heute würde kein Theologieprofessor aus Cambridge und auch sonst niemand sich so ausdrücken. Solche kleinen Anhaltspunkte für sich wandelnde Sitten lassen den Schluss zu, dass Bouquet sein Buch nicht

Weitere Kostenlose Bücher