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Der Gotteswahn

Der Gotteswahn

Titel: Der Gotteswahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dawkins
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John Rawls zum Beispiel hätte vielleicht ungefähr Folgendes formuliert: »Entwickle deine Regeln immer so, als wüsstest du nicht, ob du in der Hackordnung ganz oben oder ganz unten stehen wirst.« Ein praktisches Beispiel für Rawls’ Grundsatz ist ein System, nach dem die Inuit angeblich ihre Lebensmittel verteilten: Wer die Nahrung zerschneidet, darf sich erst als Letzter ein Stück nehmen.
    In meine eigene veränderte Version der Zehn Gebote würde ich einige der zuvor genannten aufnehmen, aber ich würde mich auch bemühen, Platz für ein paar andere zu finden, zum Beispiel:

    •   Erfreue dich an deinem eigenen Sexualleben (solange es keinem anderen Schaden zufügt) und lass andere sich des ihren ebenfalls erfreuen, ganz gleich, welche Neigungen sie haben – die gehen dich nichts an.
    •   Diskriminiere oder unterdrücke nicht aufgrund von Geschlecht, Rasse oder (soweit möglich) biologischer Art.
    •   Indoktriniere deine Kinder nicht. Bring ihnen bei, selbstständig zu denken, Belege zu beurteilen und anderer Meinung zu sein als du.
    •   Beurteile die Zukunft nach einem Zeitmaßstab, der größer ist als dein eigener.

    Aber solche kleinen Prioritätsunterschiede sind bedeutungslos. Es geht um etwas anderes: Wir sind fast alle seit der biblischen Zeit weitergekommen, und zwar ein ganzes Stück. Die Sklaverei, in der Bibel und während des größten Teils der Menschheitsgeschichte eine Selbstverständlichkeit, ist in den zivilisierten Ländern seit dem 19. Jahrhundert abgeschafft. In allen zivilisierten Staaten ist heute anerkannt, was noch bis in die Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts geleugnet wurde: dass die Stimme einer Frau bei Wahlen oder in einem Geschworenengericht genauso viel zählt wie die eines Mannes. In den heutigen aufgeklärten Gesellschaften (zu denen zum Beispiel die von Saudi-Arabien augenscheinlich nicht gehört) gelten Frauen nicht mehr als Eigentum des Mannes, was sie in biblischer Zeit ganz eindeutig waren. Jede moderne Justiz hätte Abraham wegen Kindesmisshandlung verfolgt. Und wenn er seinen Plan, Isaak zu opfern, tatsächlich ausgeführt hätte, wäre er wegen Mordes am eigenen Kind verurteilt worden. Nach den Sitten seiner Zeit dagegen war sein Verhalten bewundernswert, denn schließlich gehorchte er Gottes Befehl. Ganz gleich, ob wir religiös sind oder nicht, unsere Einstellung zu Richtig und Falsch hat sich bei uns allen drastisch verändert. Was ist das Wesen dieses Wandels, und welche Triebkraft steckt dahinter?
    In jeder Gesellschaft gibt es einen gewissen Konsens, der ein wenig rätselhaft ist und häufig als »Zeitgeist« bezeichnet wird. Wie bereits erwähnt, ist das Frauenwahlrecht in den Demokratien der ganzen Welt heute allgemein üblich, aber diese Reform ist erstaunlich jungen Datums. Die folgende Liste zeigt an einigen Beispielen, wann den Frauen das Recht zu wählen eingeräumt wurde:

    Neuseeland 1893
    Australien 1902
    Finnland  19 06
    Norwegen   1913
    Vereinigte Staaten   1920
    Großbritannien  1 928
    Frankreich 1945
    Belgien   1946
    Schweiz   1971
    Kuwait   2006

    Diese Verteilung der Jahreszahlen im 20. Jahrhundert ist ein Indiz für den sich wandelnden Zeitgeist. Ein anderes ist unsere Einstellung zu den Rassen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wären in Großbritannien (und den meisten anderen Ländern) nach heutigen Maßstäben fast alle Menschen Rassisten gewesen. Die meisten Weißen glaubten, farbige Menschen (wobei man in diese Kategorie nicht nur die Afrikaner, sondern auch andere, mit ihnen nicht näher verwandte Gruppen aus Indien, Australien und dem Pazifikraum einordnete) seien den Weißen in nahezu jeder Hinsicht unterlegen, außer – wie man herablassend zugestand – in Bezug auf das Rhythmusgefühl.
    Eine Entsprechung zu James Bond war in den Zwanzigerjahren der nonchalante Jugendheld Bulldog Drummond, [46] der zum Beispiel im Roman The Black Gang (»Die schwarze Bande«) von »Juden, Ausländern und anderem ungewaschenen Volk« spricht. In der Schlüsselszene des Romans The Female of the Species (»Das Weibchen«) hat Drummond sich schlauerweise als Pedro, der farbige Diener des Oberschurken, verkleidet. Bei seiner – für den Leser wie für den Bösewicht – überraschenden Enthüllung, nicht »Pedro«, sondern in Wirklichkeit Drummond zu sein, hätte er sinngemäß sagen können: »Sie glauben, ich sei Pedro. Aber da haben Sie sich schwer getäuscht. Ich bin Ihr Erzfeind Drummond und hab mich nur schwarz angemalt.«

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