Der Gotteswahn
andere überzeugen, sodass sie uns mitziehen. In den Vereinigten Staaten wurden die Ideale der Gleichberechtigung verschiedener Rassen durch politische Führungsgestalten vom Kaliber eines Martin Luther King vorangetrieben, aber auch durch Unterhaltungskünstler, Sportler und andere prominente Vorbilder wie Paul Robeson, Sidney Poitier, Jesse Owens und Jackie Robinson. Die Emanzipation der Sklaven und der Frauen hatte charismatischen Gestalten viel zu verdanken. Manche davon waren religiös, andere nicht. Manche, die religiös waren, vollbrachten ihre guten Taten wegen ihrer Religiosität. In anderen Fällen war die Religion nebensächlich. Martin Luther King war zwar Christ, seine Philosophie des gewaltlosen zivilen Ungehorsams stammte aber unmittelbar von dem nicht religiösen Mahatma Gandhi.
Hinzu kommt die verbesserte Bildung und insbesondere die wachsende Erkenntnis, dass jeder von uns sein Menschsein mit den Angehörigen aller Rassen und beider Geschlechter gemeinsam hat – beides sind zutiefst unbiblische Ideen, die ihren Ursprung in der biologischen Wissenschaft und insbesondere in der Evolutionsforschung haben. Dass Farbige, Frauen und in Nazideutschland auch Juden und Zigeuner schlecht behandelt wurden, lag unter anderem daran, dass sie nicht als vollwertige Menschen galten. Der Philosoph Peter Singer vertritt in seinem Buch Animal Liberation (Befreiung der Tiere) wortreicher als jeder andere die Ansicht, wir sollten auch den »Speziesismus« hinter uns lassen und die menschliche Behandlung auf alle biologischen Arten ausweiten, die es aufgrund der Leistungsfähigkeit ihres Gehirns zu schätzen wissen. Vielleicht ist das ein Hinweis, in welche Richtung sich der ethische Zeitgeist in zukünftigen Jahrhunderten entwickeln könnte. Es wäre die natürliche Fortschreibung früherer Reformen wie der Abschaffung der Sklaverei und der Frauenemanzipation.
Genauer zu erklären, warum der ethische Zeitgeist sich so umfassend und einheitlich wandelt, übersteigt die Möglichkeiten meiner amateurhaften Psychologie und Soziologie. In meinem Zusammenhang reicht die Beobachtung, dass er sich tatsächlich verändert und dass diese Veränderung nicht von der Religion vorangetrieben wird – und erst recht nicht von der Bibel. Vermutlich steht dahinter keine einheitliche Triebkraft wie die Gravitation, sondern ein komplexes Wechselspiel verschiedener Kräfte, ganz ähnlich wie beim Moore-Gesetz, das die exponentielle Zunahme der Leistungsfähigkeit von Computern beschreibt. Was immer die Ursache auch sein mag: Das unübersehbare Phänomen des wandelbaren Zeitgeistes ist ein mehr als ausreichendes Gegenargument gegen die Behauptung, wir brauchten Gott, um gute Menschen zu sein oder um zu entscheiden, was gut ist.
Und was ist mit Hitler und Stalin? Waren das nicht Atheisten?
Der Zeitgeist mag sich wandeln und sich allgemein in einer fortschrittlichen Richtung bewegen, aber wie ich bereits erwähnt habe, handelt es sich dabei nicht um eine ununterbrochene Verbesserung, sondern um ein Auf und Ab mit einigen widerwärtigen Gegenbewegungen. Einige besonders hervorstechende umfassende, entsetzliche Einbrüche waren das Werk der Diktatoren des 20. Jahrhunderts. Dabei ist jedoch zu trennen zwischen den bösen Absichten von Männern wie Hitler und Stalin und der gewaltigen Machtfülle, mit der sie diese Absichten umsetzen konnten. Wie schon gesagt, Hitlers Ideen und Absichten waren als solche nicht offenkundig schlimmer als die eines Caligula oder mancher osmanischer Sultane, deren verblüffende Meisterstücke an Boshaftigkeit Noel Barber in seinem Buch Lords of the Golden Horn (»Die Herren vom Goldenen Horn«) beschreibt. Nur, Hitler standen zusätzlich die Waffen und die Kommunikationstechnik des 20. Jahrhunderts zur Verfügung. Zweifellos waren Hitler und Stalin aber nach allen erdenklichen Maßstäben außerordentlich böse Menschen.
»Hitler und Stalin waren Atheisten. Was haben Sie dazu zu sagen?« Diese Frage kommt fast immer, wenn ich einen öffentlichen Vortrag über Religion gehalten habe, aber auch in den meisten Rundfunkinterviews. Sie wird in herausforderndem Ton gestellt und ist mit zwei entrüsteten Unterstellungen befrachtet: Erstens waren Hitler und Stalin Atheisten, und zweitens begingen sie ihre entsetzlichen Taten, weil sie Atheisten waren. Die erste Annahme ist für Stalin richtig, für Hitler jedoch zweifelhaft. Aber die erste ist ohnehin bedeutungslos, weil die zweite nicht stimmt. Der Gedanke, die
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