Der Gotteswahn
Prügel schwerer zu bekommen als für sexuelle Zärtlichkeiten, und es besteht kein Mangel an Anwälten, die sich aktiv um Geschäfte mit Opfern bemühen, obwohl diese sich ansonsten über die entfernte Vergangenheit keinerlei Gedanken mehr gemacht hätten. Die längst vergangene Fummelei in der Sakristei ist eine Goldgrube – in vielen Fällen ist sie so lange her, dass der angebliche Täter wahrscheinlich tot ist und die Geschichte nicht mehr aus seiner Sicht erzählen kann. Die katholische Kirche hat weltweit mehr als eine Milliarde Dollar an Schadenersatz gezahlt. 153 Man könnte fast Mitgefühl mit ihr haben – allerdings nur so lange, bis man sich daran erinnert, woher das Geld ursprünglich stammt.
In der Diskussion nach einem Vortrag in Dublin wurde ich einmal gefragt, was ich von den pressewirksamen Fällen sexuellen Missbrauchs durch katholische Geistliche in Irland hielte. Darauf erwiderte ich, sexueller Missbrauch sei zweifellos etwas Entsetzliches, aber der dadurch verursachte langfristige psychische Schaden sei nachweislich geringer als der, den eine katholische Erziehung anrichte. Die Bemerkung hatte ich ad hoc aus dem Ärmel geschüttelt, aber zu meiner Überraschung erntete ich damit beim irischen Publikum (das zugegebenermaßen aus Dubliner Intellektuellen bestand und vermutlich für das Land als Ganzes nicht repräsentativ war) begeisterten Applaus. Dieser Vorfall fiel mir später wieder ein, als ich einen Brief von einer über vierzigjährigen Amerikanerin erhielt, die katholisch erzogen worden war. Wie sie mir berichtete, waren ihr im Alter von sieben Jahren zwei unangenehme Dinge widerfahren. Sie wurde von ihrem Gemeindepriester in seinem Auto sexuell missbraucht, und ungefähr zur gleichen Zeit war eine kleine Schulfreundin, die auf tragische Weise ums Leben gekommen war, zur Hölle gefahren, weil sie Protestantin war. In diesem Glauben jedenfalls hatte man die Briefschreiberin aufgrund der damaligen offiziellen Lehre ihrer elterlichen Kirche gelassen. Als Erwachsene stand sie gegenüber diesen beiden Fällen katholischer Kindesmisshandlung – die eine körperlich, die andere psychisch – auf dem Standpunkt, dass die zweite bei weitem schlimmer gewesen sei. Sie schrieb mir:
Vom Priester gestreichelt zu werden hinterließ (im Geist einer Siebenjährigen) nur den Eindruck von »Igitt«, aber dass meine Freundin zur Hölle gefahren war, führte bei mir zu einer Erinnerung an kalte, unermessliche Angst. Wegen des Priesters hatte ich keine schlaflosen Nächte – aber ich lag so manche Nacht wach mit dem entsetzlichen Gedanken, dass Menschen, die ich liebte, in die Hölle kommen konnten. Das verursachte mir Albträume.
Zugegeben: Die sexuellen Liebkosungen, die sie im Auto des Priesters erdulden musste, waren relativ harmlos im Vergleich beispielsweise zu Schmerzen und Ekel eines missbrauchten Ministranten. Außerdem redet die katholische Kirche heute angeblich nicht mehr so viel von der Hölle wie früher. Aber das Beispiel zeigt, dass die psychische Kindesmisshandlung zumindest in manchen Fällen schlimmer ist als die körperliche. Alfred Hitchcock, der große Meister der Kunst, Menschen im Kino Angst einzujagen, zeigte angeblich auf einer Reise durch die Schweiz einmal aus dem Autofenster und sagte: »Das ist der beängstigendste Anblick, den ich jemals gesehen habe.« Es war ein Priester, der sich mit einem kleinen Jungen unterhielt und diesem dabei die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Hitchcock beugte sich aus dem Autofenster und rief: »Lauf, kleiner Junge! Lauf um dein Leben!«
»Knüppel und Steine brechen mir die Beine, doch Worte tun mir niemals weh.« Dieses Sprichwort stimmt –
allerdings nur, solange man an die Worte nicht glaubt. Wenn jedoch unsere ganze Erziehung und alles, was wir von Eltern, Lehrern und Priestern je gehört haben, uns dazu veranlassen zu glauben – wirklich zu glauben – , dass Sünder im Höllenfeuer brennen (oder dass andere heimtückische Lehren stimmen, etwa die, dass eine Frau Eigentum ihres Ehemannes sei), dann ist der Gedanke durchaus plausibel, dass Worte längerfristig größeren Schaden anrichten als Taten. Nach meiner Überzeugung ist der Ausdruck »Kindesmisshandlung« keine Übertreibung für das, was Lehrer und Priester einem Kind antun, wenn sie es beispielsweise in dem Glauben erziehen, ungebeichtete Todsünden würden mit dem ewigen Höllenfeuer bestraft.
In der bereits erwähnten Fernsehdokumentation Root of All Evil? befragte ich
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