Der Gotteswahn
eine Reihe von Religionsführern. Anschließend wurde ich kritisiert, weil ich mir amerikanische Extremisten ausgesucht hatte und keine angesehenen Vertreter aus der Hauptrichtung der Religion, beispielsweise Erzbischöfe. [51] Diese Kritik hört sich berechtigt an – nur ist das, was der Außenwelt extremistisch erscheint, im Amerika des 21. Jahrhunderts bereits die Hauptrichtung. Zu den Interviewpartnern, die dem britischen Fernsehpublikum am widerlichsten vorkamen, gehörte beispielsweise Pastor Ted Haggard aus Colorado Springs. In Bushs Amerika jedoch ist »Pastor Ted« kein Extremist, sondern Präsident der National Association of Evangelicals, die 30 Millionen Mitglieder hat, und eigenen Behauptungen zufolge genießt er das Vorrecht, sich jeden Montag mit Präsident Bush telefonisch beraten zu können. Hätte ich nach heutigen amerikanischen Maßstäben echte Extremisten befragen wollen, hätte ich mich an die »Rekonstruktionisten« wenden müssen, die sich mit ihrer »Dominion-Theologie« offen für einen christlichen Gottesstaat in Amerika einsetzen. Ein besorgter amerikanischer Kollege schrieb mir:
Die Europäer müssen wissen, dass es einen theologischen Wanderzirkus gibt, der die Wiedereinsetzung des alttestamentlichen Rechts fordert – mit der Tötung von Homosexuellen und so weiter – und der politische Ämter oder sogar das Wahlrecht nur Christen zugestehen will. Die Masse der Mittelschicht bejubelt diese Rhetorik. Wenn die Säkularisten nicht aufpassen, werden Dominionisten und Rekonstruktionisten schon bald die Hauptrichtung in einer echten amerikanischen Theokratie darstellen. [52]
Ein weiterer Gesprächspartner in meinen Fernsehinterviews war Pastor Keenan Roberts, der aus dem gleichen US-Bundesstaat – nämlich Colorado – stammte wie »Pastor Ted«. Pastor Roberts pflegt eine besondere Art der Verrücktheit in Form der »Höllenhäuser«, wie er sie nennt. In ein Höllenhaus werden Kinder von ihren Eltern oder ihrer christlichen Schule gebracht, und dort macht man ihnen wahnsinnige Angst vor dem, was nach dem Tod mit ihnen geschehen kann. Schauspieler spielen in beängstigenden Szenen einzelne »Sünden« wie Abtreibung und Homosexualität nach, während ein scharlachrot gekleideter Satan schadenfroh zusieht. Aber das alles ist nur das Vorspiel zur Glanznummer, der Hölle selbst mit dem realistischen Geruch brennenden Schwefels und den qualvollen Schreien der für immer Verdammten.
Nachdem ich mir eine Probe angesehen hatte – der Teufel war darin richtig schön diabolisch im kitschigen Stil des Bösewichts aus einem viktorianischen Melodram –, interviewte ich Pastor Roberts in Gegenwart seiner Schauspieler. Er erklärte mir, zwölf Jahre seien das beste Alter, in dem die Kinder das Höllenhaus besuchen sollten. Ich war darüber ein wenig schockiert und fragte ihn, ob es ihm keine Sorgen mache, dass Zwölfjährige nach einer seiner Vorführungen Albträume bekommen könnten. Darauf erwiderte er – vermutlich aus ehrlicher Überzeugung:
Mir ist etwas anderes wichtiger: Sie sollen begreifen, dass die Hölle ein Ort ist, wohin sie auf keinen Fall kommen wollen. Lieber erreiche ich sie mit dieser Botschaft im Alter von zwölf Jahren, als dass ich sie damit überhaupt nicht erreiche und sie dann ein Leben in Sünde führen und nie zum Herrn Jesus Christus finden. Wenn sie wegen eines solchen Erlebnisses dann am Ende Alpträume haben, gibt es nach meiner Überzeugung ein höheres Gut, das sie in ihrem Leben letztlich erringen und erreichen, und das ist wichtiger als ein paar Albträume.
Wenn man, was Pastor Roberts als seine Überzeugung ausgibt, wirklich und wahrhaftig glaubt, hält man es sicher auch für richtig, Kinder einzuschüchtern.
Wir können Pastor Roberts nicht als extremistischen Sonderling abtun. Wie Ted Haggard gehört auch er im heutigen Amerika zur Hauptrichtung. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn beide sich auch einer weiteren Überzeugung einiger ihrer Glaubensbrüder anschlössen: Demnach hört man die Schreie der Verdammten, wenn man in Vulkane hineinhorcht, 154 und die großen Röhrenwürmer, die man an den heißen Schloten in der Tiefsee findet, sind eine Erfüllung von Markus 9,43–44: »Wenn dich aber deine Hand zum Abfall verführt, so haue sie ab! Es ist besser für dich, dass du verkrüppelt zum Leben eingehst, als dass du zwei Hände hast und fährst in die Hölle, in das Feuer, das nie verlöscht, wo der Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht
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