Der Gotteswahn
vielleicht? Mit Kunst? Mit zwischenmenschlichen Beziehungen? Mit Humanismus? Mit der Liebe zu diesem Leben in der wirklichen Welt, weil wir ein anderes Leben jenseits des Grabes für nicht glaubhaft halten? Mit Liebe zur Natur, oder mit Biophilie , wie es der große Insektenforscher E.O. Wilson nannte?
Die Religion hat, wie man verschiedentlich meinte, im Leben der Menschen vier wichtige Funktionen zu erfüllen: Erklärung, Ermahnung, Trost und Inspiration. Historisch betrachtet, strebte die Religion danach, unser eigenes Dasein und das Wesen des Universums, in dem wir uns befinden, zu erklären. In dieser Rolle wurde sie mittlerweile vollständig von der Naturwissenschaft verdrängt – ein Thema, mit dem ich mich im vierten Kapitel befasst habe. Mit Ermahnung meine ich ethische Anweisungen, wie wir uns verhalten sollen – damit habe ich mich in den Kapiteln 6 und 7 befasst. Trost und Inspiration habe ich bisher nicht angemessen berücksichtigt, darum werde ich mich in diesem letzten Kapitel kurz damit beschäftigen.
Als Vorbereitung zum Thema des Trostes möchte ich das Kindheitsphänomen des »Fantasiefreundes« betrachten, das nach meiner Überzeugung in enger Verbindung zum religiösen Glauben steht.
Binker
Ich nehme an, A.A. Milnes kleiner Sohn Christopher Robin glaubte in Wirklichkeit nicht, dass Pu der Bär und Ferkel tatsächlich zu ihm sprachen. Aber vielleicht war es mit Binker anders?
Ich hab ’nen Freund, den keiner kennt; Binker nenn ich ihn,
Binker ist der Grund dafür, dass ich nie einsam bin.
Ob ich auf der Treppe sitze, ob ich übe am Klavier
Oder spiel im Kinderzimmer, Binker, der ist stets bei mir.
Mein Papa ist wahrhaftig ein sehr gescheiter Mann,
Und eine bessre Mama niemand sich wünschen kann,
Und Nanny ist die Nanny, und ich sag zu ihr Nann –
Doch keiner von den dreien kann Ihn sehn, den Binker.
Sein kleines Mundwerk steht nie still, er spricht mal laut, mal leiser,
Seit ich ihm Sprechen beigebracht, und manchmal krächzt er heiser.
Und manchmal möchte er lauthals schrein, möchte richtig blöken glatt,
Und das muss ich dann für ihn tun, dieweil er Halsweh hat.
Mein Papa ist wahrhaftig ein sehr gescheiter Mann,
Und meine Mama ist die beste Ma, die man sich wünschen kann,
Und Nanny ist die Nanny, und ich sag zu ihr Nann –
Doch keiner von den dreien kann w as wissen von Binker.
Binker ist wie ein Löwe kühn, lauf ich mit ihm in den Park,
Und wenn ich nachts im Dunkeln lieg, ist er wie ’n Tiger stark.
Und keiner kann so gut wie er mir zum Beschützer taugen.
Er weint niemals, außer er kriegt mal Seife in die Augen.
Mein Papa ist der beste Papa und Ehemann,
Und Mama ist die beste Ma, die man sich wünschen kann,
Und Nanny ist die Nanny, und ich sag zu ihr Nann –
Doch keiner von den dreien kann s o sein wie Binker.
Binker ist nicht verfressen, er isst nur gerne viel;
Drum sag ich, wenn Miss Maggie mir ein Bonbon schenken will:
»Binker will auch ein Bonbon. Ich brauch zwei Bonbons, Miss.«
Und dann ess ich sie beide auf, und er schont sein Gebiss.
Den Papa hab ich schrecklich lieb, nur ist er nie zu Haus,
die Mami hab ich auch sehr lieb, nur geht sie manchmal aus.
Mit Nanny hab ich öfter Streit, die will mich immer kämmen.
Nur Binker lässt mich nie allein; der weiß sich zu benehmen. 167
Ist das Phänomen des Fantasiefreundes eine höhere Illusion, gehört es also in eine andere Kategorie als die normalen Kindheitsfantasien? Meine eigenen Erfahrungen sind an dieser Stelle keine große Hilfe. Wie viele Eltern, so hielt auch meine Mutter in einem Notizbuch fest, was ich als Kind von mir gab. Neben einfachen Rollenspielen (jetzt bin ich der Mann im Mond … jetzt bin ich ein Gaspedal … jetzt bin ich ein Babylonier) hatte ich offenbar auch Spaß an Rollenspielen zweiter Ordnung (jetzt bin ich eine Eule, die so tut, als wäre sie ein Wasserrad), und diese waren manchmal auch reflexiv (jetzt bin ich ein kleiner Junge, der so tut, als wäre er Richard). Aber ich glaubte nie, ich sei wirklich eines dieser Dinge, und nach meiner Überzeugung gilt dies in der Regel für alle kindlichen Fantasiespiele. Aber ich hatte auch keinen Binker. Glaubt man den späteren Aussagen von Erwachsenen, so waren zumindest manche von ihnen ganz normale Kinder, die Fantasiefreunde hatten und glaubten, dass diese wirklich existierten; in manchen Fällen sahen sie sie in Form klarer, deutlicher Halluzinationen. Ich denke, das kindliche
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