Der Gotteswahn
aufmerksam, dass entwurzelte Immigranten, nachdem sie Stabilität und Annehmlichkeiten der Großfamilie in Europa hinter sich gelassen hatten, im fremden Land in der Kirche möglicherweise einen Familienersatz sahen. Das ist ein interessanter Gedanke, dessen weitere Untersuchung sich lohnen würde. Jedenfalls besteht kein Zweifel, dass die lokale Kirchengemeinde, die tatsächlich Merkmale einer Großfamilie hat, für viele Amerikaner ein wichtiges Stück ihrer Identität darstellt.
Einer weiteren Hypothese zufolge ist die Religiosität der Amerikaner paradoxerweise gerade auf den säkularen Charakter ihrer Verfassung zurückzuführen: Gerade weil die Vereinigten Staaten juristisch ein säkulares Land sind, wurde die Religion zu einer Branche mit Zügen des freien Unternehmertums. Verschiedene Kirchen konkurrieren – nicht zuletzt wegen der damit verbundenen Einnahmen – um die einzelnen Gemeinden, und der Wettbewerb wird dabei mit allen aggressiven Verkaufspraktiken einer freien Marktwirtschaft geführt. Was mit Seifenpulver funktioniert, funktioniert auch mit Gott, und die Folgen grenzen heute in den weniger gebildeten Schichten geradezu an religiöse Manie. In England dagegen ist Religion unter der Ägide einer festgefügten Kirche kaum mehr als ein angenehmer geselliger Zeitvertreib, an dem man fast gar nichts Religiöses erkennt. Diese englische Tradition brachte Giles Fräser, ein anglikanischer Vikar, der nebenher in Oxford als Dozent für Philosophie tätig ist, sehr hübsch im Guardian zum Ausdruck. Sein Artikel trägt den Untertitel »Bei der Gründung der Kirche von England wurde Gott aus der Religion verbannt, aber eine aktivere Glaubenshaltung hat auch ihre Gefahren«:
Es gab einmal eine Zeit, da gehörte der Landgeistliche zum Inventar der englischen Dramatis personae. Der Tee trinkende, freundliche Exzentriker mit polierten Schuhen und untadeligen Manieren repräsentierte eine Form der Religion, bei der unreligiöse Menschen sich nicht unwohl fühlten. Er brach nicht in existenziellen Schweiß aus und drängte einen nicht in die Ecke, um dann zu fragen, ob man errettet sei, und noch weniger führte er von der Kanzel einen Kreuzzug oder legte im Namen irgendeiner höheren Macht Bomben an den Straßenrand. 23
(Damit ist er ein Kollege von Betjemans »Our Padre«, den ich am Anfang von Kapitel 1 zitiert habe.) Weiter schreibt Fraser: »Dieser freundliche Landgeistliche impfte Heerscharen von Engländern sehr wirksam gegen das Christentum.« Am Ende seines Artikels beklagt er einen neueren Trend in der Kirche von England, die Religion wieder ernst zu nehmen, und sein letzter Satz ist eine Warnung: »Es besteht Anlass zu der Sorge, dass wir den Geist des englischen religiösen Fanatismus wieder aus der bürgerlichen Flasche lassen, in der er seit Jahrhunderten eingeschlossen war.«
In Amerika feiert der Geist des religiösen Fanatismus heute fröhliche Urständ – die Gründerväter wären entsetzt gewesen. Ob es nun paradoxerweise tatsächlich an der von ihnen entworfenen säkularen Verfassung liegt oder nicht, die Begründer der Vereinigten Staaten selbst waren mit ziemlicher Sicherheit Säkularisten, nach deren Überzeugung man die Religion aus der Politik heraushalten sollte. Das allein reicht, um sie eindeutig an die Seite derer zu stellen, die etwas dagegen haben, beispielsweise die Zehn Gebote auf staatseigenen öffentlichen Plätzen demonstrativ zur Schau zu stellen. Faszinierend sind aber auch Spekulationen, wonach manche Gründerväter vielleicht über den Deismus hinausgingen. Könnten sie Agnostiker oder vielleicht sogar eingefleischte Atheisten gewesen sein? Die folgende Aussage von Jefferson unterscheidet sich in nichts von dem, was wir als Agnostizismus bezeichnen würden:
Vom immateriellen Dasein zu sprechen heißt vom Nichts zu sprechen. Zu sagen, die Seele des Menschen, die Engel oder Gott seien immateriell, heißt zu sagen, dass sie nichts sind, oder dass es keinen Gott, keine Engel, keine Seele gibt. Anders kann ich vernünftigerweise nicht denken, […] ohne mich in den bodenlosen Abgrund der Träume und Phantastereien zu stürzen. Ich bin mit den Dingen, die da sind, zufrieden und ausreichend beschäftigt, ohne mich zu quälen oder mir Sorgen zu machen über jene, die es vielleicht tatsächlich gibt, für die ich aber keine Belege habe.
Christopher Hitchens hält es in seiner Biografie Thomas Jefferson: Author of America für wahrscheinlich, dass Jefferson Atheist war –
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